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Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie | Rezension

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Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2017. 1144 S.

Von Anna Hodel

 

„Ich bin gewissermassen ein Urenkel der österreichisch-ungarischen Monarchie“, pflegt der heute in Zagreb lebende postjugoslawische Schriftsteller Miljenko Jergović von sich selbst zu sagen (vgl. zum Beispiel Interview mit Vijesti, 30.8.2014). Diese Aussage rekurriert auf eine historische Faktenlage. Als Zeuge dafür kann des Schriftstellers Urgroßvater Karlo Stubler aufgerufen werden, welcher, seines Zeichens habsburgischer Banatschwabe und hoher Eisenbahnbeamter, der imperialen Politik Österreich-Ungarns folgend nach mehreren transmonarchischen Versetzungen mit seiner Familie in Sarajevo lebte. Oder Karlos Schwiegersohn Franjo Reic, des Schriftstellers Großvater, dessen Heimat als Koordinator der Eisenbahn-Fahrpläne Bosnien-Herzegowinas „zeitlebens das gesamte Territorium Österreich-Ungarns war“ (S. 356). Denn – und deshalb enthält die Urenkel-Aussage auch ein (potentiell nostalgisches) gesellschaftlich-identitätsbezogenes Programm – Großvater Reic war angehalten, seinen bosnisch-herzegowinischen Fahrplan aus streckentechnischen Gründen auch noch nach dem Untergang der Donaumonarchie mit allen ihr ehemals ein- oder angegliederten Zonen abzustimmen, um auf diesem gesamten Streckennetz Unfälle zu verhindern. Jenseits von staatlichen, nationalen oder ethnischen Grenzen fasste Großvater Reic Heimat deshalb als „Heimat seiner menschlichen Verantwortlichkeit“ (S. 356) auf.

Die Aussage der kakanischen Familienabstammung trägt bei Jergović indes nicht nur dem weiten geografischen (und kulturellen) Horizont seiner Vorfahren Rechnung. Sie initiiert auch eine spezifische Poetik oder Erzählreflexion, die sich in seinem Buch Die unerhörte Geschichte meiner Familie [Rod, 2013], in welchem Karlo Stubler und Franjo Reic zwei unter vielen weiteren Figuren darstellen, auf besonders fruchtbare Art und Weise entfaltet.

Nachdem Miljenko Jergović schon einige Bücher zur Geschichte des jugo- bzw. südslawischen Raums vorgelegt und diese im Lichte vieler, oft familienbezogener Erzählungen intensiv ausgeleuchtet hat – zuletzt 2010 im Roman Vater [Otac] –, mag man sich fragen, ob es dieses Buch mit seinen über 1000 Seiten (1001 im Original, 1137 in der deutschen Übersetzung) noch gebraucht hätte. Diese Frage verfliegt bei der Lektüre sehr schnell. Die unerhörte Geschichte meiner Familie handelt nicht nur vornehmlich von der Mutter des Schriftstellers, der Tochter von Franjo Reic, und von ihrer Familie, es ist gleichsam auch das (bereits als sein Opus Magnum angepriesene) Mutterbuch all seiner Bücher sowie eine Art von Mutter- oder Urerzählung zur Geschichte der letzten 150 Jahre Südosteuropas (beziehungsweise Europas, sofern sich dieses in gewisser Hinsicht auch als posthabsburgische Gemeinschaft betrachten lässt).

Der Titel der Originalausgabe, Rod, ist in seiner Kürze und Prägnanz überaus vieldeutig und durchaus programmatisch. Rod bedeutet einerseits Familie, Sippe, Verwandtschaft, andererseits auch Heimat, Nation. Es bedeutet sowohl Kategorie, Art, Typ als auch Ernte, Früchte. Und nicht zuletzt wird damit die Gattung, zum Beispiel die literarische, bezeichnet. All diese Bedeutungsebenen erweisen sich als konstitutiv für Jergovićs Buch: die Familiengeschichte als Heimat- oder Nationalgeschichte und umgekehrt die Fruchtbarkeit dieser Perspektive sowie die Typenhaftigkeit, die sich darin – in einem gewichtigen Understatement – versteckt und die das scheinbare Chaos, das jede Familie bedeutet, spielerisch bis unheilvoll verbirgt. Auch der Hinweis auf die literarischen Gattungen, die rodovi, ist elementar für Jergovićs Unerhörte Geschichte. Die außerordentliche Stil- und Gattungsvielfalt, die der Roman aufweist (das Inhaltsverzeichnis nennt explizit u. a. Vortrag, Roman, Quartette, Reportage, Inventar, Fiction), konstituiert keine Stilübung à la Raymond Queneau. Vielmehr ist es eine grundlegende Aussage zum Modus des Erzählens, wie ihn dieser Vielvölker-Raum hervorbringt, oder mehr noch, wie er ihn – würde man diesen genialen Erzähler erhören – verlangen würde: Es ist der Modus der Dispersion, der Variation und der Pluralisierung. Denn gerade diese narrative Reflexion verbindet sich wiederum mit einer gesellschaftlich-identitätsbezogenen: Wir sind, was wir und wie wir es erzählen. Und so gesehen, sind wir unendlich viele Wir. Das ist eine Vision, die sich auch das heutige Europa mit seinen pluralen Grenzen, transnational-regionalen Verflechtungen und fortdauernden Migrationsbewegungen zu Herzen nehmen könnte – gerade bei den gegenwärtig allerorten beharrlich erstarkenden Renationalisierungs- und Monologisierungstendenzen.

Die (eigene) Familie dient Jergović als faktualer und reflexiver Ausgangs- und Fluchtpunkt, indes stets von der Prämisse ihrer prinzipiellen Fiktionalität und narrativen Modularität ausgehend: „Der familiäre Zusammenhalt, das, was uns als Familie konstituierte, gründete wie jede kulturelle, verwandtschaftliche oder häusliche Gemeinschaft auf einer Illusion.“ (S. 611) Und diese Illusion gerät jenseits jeglicher Romantisierung ins Getriebe der Narration: „Stolz auf die eigene Familie ist nicht gut, denn von da ist es nur ein Schritt und man ist stolz auf sein Volk – eine schwere, verachtungswürdige und meistens unheilbare Krankheit.“ (S. 378) Dennoch oder gerade weil die Familie in all ihren Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten beleuchtet wird, ist der Roman voll emphatischen und respektvollen Interesses an den Figuren, an ihren Fähigkeiten ebenso wie an ihren Schrulligkeiten, die, wie etwa das expansive Bienenzucht-Hobby des wortkargen Franjo Reic, jeweils ebenso viele Buchseiten erhalten wie sie subjektive Wichtigkeit in den jeweiligen Leben besaßen.

„Mein Zuhause gehört der Vergangenheit an, und die Gegenwart ist überwiegend fernes Ausland, egal wo ich mich aufhalte.“ (S. 430) Das Interesse Miljenko Jergovićs an der Vergangenheit und der Geschichte, das bei ihm im Sinne des return of the narrative eine wenn nicht formale, so zumindest semiotische Gegenposition zu postmodernen Literaturformen andeutet, ist kaum einer Gegenwarts- oder Zukunftsverdrossenheit geschuldet. Auch nicht der Sehnsucht nach einer kindlich ungetrübten Welt oder einer verlorenen Heimat. Vielmehr ist es Ausdruck einer durchaus auf die Gegenwart gerichteten gesellschaftskritischen Haltung, wie sie Jergovićs gesamtes Werk prägt und wie er sie in seinem dokumentarischen Roadmovie Lange Reise durch die Geschichte [Dugo putovanje kroz istoriju, historiju i povijest] von 2010 besonders prägnant artikulierte: „Über die Vergangenheit soll man nicht schweigen, sondern reden, sonst kehrt die Scheiße immer wieder zurück.“ Jedoch nicht dass, sondern wie man über sie reden soll, ist hier die entscheidende Frage.

In dieser Hinsicht ist Die unerhörte Geschichte meiner Familie Diskursanalyse, Denkmal und Potential zugleich. Statt die Verbrechen und Ungerechtigkeiten zu zählen oder die Leiden der Opfer auszumessen und abzuwägen, untersucht Miljenko Jergović in einem unerhörten erzählerischen Furor und einer fluiden, heterogenen und dennoch gekonnt zusammengehaltenen Multiperspektivik nicht nur all die Weisen, in welchen die Geschichte die Menschen prägt, sondern auch jene, in welchen die Menschen selbst die Geschichte prägen, indem sie sie erzählen, also in Geschichte(n) umwandeln. Und in ihren Erzählungen, die mit einem deutlich zelebrierten literarischen Spieltrieb immer von Neuem Fiktives mit Faktischem vermischen und extra- und intradiegetische Grenzen aufweichen, konstituieren sich die Figuren jeweils in relativer Abhängigkeit zum stets kontingenten (narrativen) Setting; gewissermaßen, wie Niklas Luhmann sagen würde, als Gegenstände im „Horizont möglicher Abwandlungen“. Auf die Identitätsproblematik übertragen klingt das bei Jergović so: „Der Grund also, jedes meiner Wir auf ein Ich zu reduzieren, in der langen Zeit des Hasses die Ausnahme sein zu wollen […], liegt in meiner Identität, die untrennbar auch das enthält, was ich nicht bin.“ (S. 17f.) Jergović zelebriert hier keinen Multikulturalismus, wie er häufig in positiven Stereotypisierungen Bosniens prominent figuriert (die er abtut als „Mär vom friedlichen Zusammenleben in Bosnien“, S. 424). Viel eher betont er das unhintergehbare Enthaltensein des Anderen im Eigenen, der Alterität/en in der/den Identität/en. Und das ist eines der inhaltlich und gleichzeitig formal-narrativ leitmotivischen Verfahren, welches dieses Buch vorführt – einer seiner beeindruckendsten Kniffe.

Weit davon entfernt indes, einer narrativen Zirkusvorstellung zu ähneln, entspringt Jergovićs Erzählen gleichzeitig einer tragischen Grundkonstellation. Die Geschichten handeln nicht nur von heterogenen Nachbarschaften, transkulturellen Verliebtheiten und Plurilingualitäten, sondern auch von absurden und (oft dummen) Zufällen geschuldeten Momenten der Wahl von (politischen) Konfliktseiten in dieser an Konflikten nicht armen Historie. Einem solchen dummen Zufall fiel ein Onkel Jergovićs im Zweiten Weltkrieg zum Opfer, als man ihn aufgrund der Annahme höherer Überlebenschancen – fälschlicherweise – zu den Deutschen, also zu den Nazis, statt zu den Partisanen schickte. Sein Tod wird zu einem folgenschweren familiären Trauma. Die Mutter des Onkels, Jergovićs Großmutter, leidet ihr Leben lang an Schuldgefühlen, welche sie insbesondere auf ihr anderes Kind, auf Jergovićs Mutter, überträgt, indem sie es mit Liebesentzug straft. Diesen gibt Jergovićs Mutter an ihr eigenes Kind, an Miljenko, weiter, und die Erfahrung der nichtexistenten Mutterliebe ist eine der dunklen, aber grundlegenden Triebfedern dieses Mutterbuches. „Ich habe sie nicht geliebt. […] Sie nicht lieben ist fürchterlich und allumfassend, wie ein Magnet, der alles anzieht und ringsum Ödnis und Chaos schafft.“ (S. 281)

Doch so wie die Mutter, die an Krebs leidend im Sterben liegt, ihrem Sohn, dem Schriftsteller, Scheherazade gleich und dem Tod entgegen Geschichten um Geschichten erzählt – jene Familiengeschichten, die in diesem Buch in unterschiedlichen Gattungen niedergelegt sind –, so postuliert auch der Erzähler: „Glücklich ist, wer vergisst, oder wer die Erinnerung in einen Text gießt, in eine literarische Fiktion …“ (S. 226) Wobei nicht nur die Seitenzahl dieses Mutter-Romans deutlich macht, welche Variante für Miljenko Jergović wie auch für seine Leserinnen und Leser die fruchtbarere ist.

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