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Arne Karsten: Der Untergang der Welt von gestern | Rezension

Arne Karsten: Der Untergang der Welt von gestern. Wien und die k. u. k. Monarchie 1911–1919. München: Verlag C. H. Beck 2019. 269 S., 18 Abb., 4 Karten.

 

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Von Konrad Gündisch

In unserer Zeit der politischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Unsicherheit, der „Zeitenwende“, von einer Epoche der Stabilität und des (längeren, aber nicht ununterbrochenen) Friedens in Europa zu einer befürchteten Instabilität wegen kriegerischer Auseinandersetzungen, sucht man nach historischen Beispielen für ähnliche Momente und für deren Bewältigung. Man will erfahren, wie es früher war, wie Fortschrittsoptimismus und Zukunftsängste zusammenpassten, was damals schieflief, warum die Menschen etwa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert recht sorgenfrei und fortschrittsgläubig in die Zukunft sahen und warum Europa kurz danach schlafwandlerisch in den Ersten Weltkrieg geschlittert ist. Da greift man interessiert zu diesem nicht allzu umfangreichen Buch, dessen Klappentext viel verspricht: „Arne Karsten erzählt in seinem glänzend geschriebenen Buch eine andere Geschichte des großen Epochenumbruchs jenseits der hohen Politik.“ Wird dieses Versprechen eingelöst?

Bei der Schilderung des „Untergangs der Welt von gestern“ in der Habsburgermonarchie zwischen 1911 und 1919 konzentriert sich Karsten auf die Biographien von Arthur Schnitzler und seiner geistreichen jungen Freundin, der Bankierstochter Stephanie Bachrach, die er sorgfältig und einfühlsam nachzeichnet, oft aufgrund ausführlicher Zitate. Allerding lässt er auch andere Zeitzeugen zu Wort kommen. Der Autor hat für sein Thema sorgfältig die zeitgenössische Belletristik und die Fachliteratur, weniger Originalquellen, studiert (Bibliographie, S. 248–262) und bietet einen guten Einblick in die Entwicklung „Kakaniens“ (der so von Robert Musil verballhornten k. u. k.-Monarchie), insbesondere im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, mit sehr ausführlichen Rückblicken auf die vorhergehende Zeit und knappen Ausblicken auf die ersten Jahrzehnte der Zwischenkriegszeit, bis zu Schnitzlers Tod (1931). Ob Arne Karsten aber wirklich „ein brillanter Beobachter der gesellschaftlichen Krisen dieser Epoche“ ist, bleibe dahingestellt.

Das in fünf Kapitel („Im Wien der späten Kaiserzeit – Die höhere Tochter“, „Balkanwirren und die Folgen – Ein armes Mädel“, „Der Weltenbrand – Krankenschwester im Krieg“, „Dem Ende entgegen – Zerrüttung“, „Spiegelungen und Nachklänge“) gegliederte Buch versucht den Spagat zwischen den Biografien von zwei Persönlichkeiten, die in den historischen Kontext eingebettet werden, und einem geschichtlichen Sachbuch über den Untergang des Habsburgerreichs. Der Leser wird dadurch verwirrt, muss selbst versuchen, zu unterscheiden: Zwischen den detaillierten Schilderungen des Lebens und Wirkens von Arthur Schnitzler (einschließlich recht ausführlicher Analysen von Werken des Schriftstellers) sowie von Stephanie Bachrach einerseits – die laut „Prolog“ den „äußeren Rahmen“ der Darstellung bilden (S. 9) – und der Herstellung der allgemeinen Zusammenhänge der Weltgeschichte, insbesondere des Nieder- und Untergangs der österreichisch-ungarischen Monarchie andererseits. Hier setzt der Autor dem Klischee vom „kern- und wurzelfaulen“ Habsburgerreich in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens die zukunftsträchtigen Aspekte eines übernationalen Staatsverbandes entgegen, wie sie der Bankier Rudolf Sieghart beschrieben hat: „In Wirklichkeit ist das alte Österreich in der Zeit, die ich schildere, durchaus kein Zwangsstaat, sondern ein gut verwalteter Nationalitätenstaat gewesen, der in der verfassungsrechtlichen und verwaltungstechnischen Lösung des Zusammenlebens von acht Nationen viel weiter gekommen war als andere Staaten in ähnlicher Lage“. (S. 36f.)

In diesem Kontext kritisiert Karsten die ebenso egozentrische wie kurzsichtige, von Magyarisierungsbestrebungen getriebene Politik der Budapester Regierungen nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867. Unter anderem beschuldigt er Graf István Tisza wegen seiner „rein magyarische[n] Kirchturmpolitik“, er gehöre „dadurch – darüber kann leider kein Zweifel bestehen – zu den Totengräbern des Habsburgerreiches“. (S. 41) Geradezu hämisch klingt ein weiteres Urteil Karstens über die ungarische Politik: „Das visionäre Ziel, das viele ungarische Politiker in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, wenn auch nicht immer offen eingestanden, so doch im Stillen zäh verfolgten, die definitive Lösung von Wien, sie [korrekt: es, nämlich das Ziel] war tatsächlich erreicht, als Mihaly [korrekt: Mihály] Graf Károlyi am Tag von Tiszas Ermordung die Unabhängigkeit Ungarns ausrief. Doch schon sehr bald belehrten die Bestimmungen der Pariser Verträge die nationalstolzen Ungarn mit einer gewissen Brutalität darüber, dass ihr traditionelles Selbstbewusstsein und die politische Stellung der geschlagenen Nation in ein Missverhältnis geraten waren. Ungarn verlor rund zwei Drittel seines Staatsgebietes, das es zu Zeiten der untergegangenen Habsburgermonarchie so gern als ‚heilig‘ reklamiert hatte“. (S. 175) Eine differenzierendere Betrachtung wäre einer geschichtlichen Analyse würdiger gewesen.

Ich neige dazu, die gelegentlich nostalgisch verklärte oder kritisch überzogene geschichtliche Darstellung nur als Umrahmung der Biographien von Schnitzler und Bachrach einzustufen, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Arne Karstens stehen. Das legt auch der abschließende „Dank“ nahe, aus dem hervorgeht, dass das vorliegende Buch aufgrund der Lektüre von Schnitzlers Tagebüchern in der Wuppertaler Schnitzler-Forschungsstelle und von „anschließende[n] Studien in nicht allzu langer Zeit […] entstanden“ ist. (S. 201) Und das wiederum führt zur Frage, warum der Buchtitel irreführend nur auf den historischen Rahmen hinweist, aber nicht auf Schnitzler und Bachrach. Kurzum, beim Versuch, eine Konzeption des Buches zu erkennen, muss ich leider feststellen, dass eine solche nicht erläutert und schon gar nicht methodisch untermauert wird. Hier ließe sich mit Arthur Schnitzler fragen: „Man steht im Leben immer wieder vor der Wahl, es sich selbst leicht und den anderen schwer zu machen – oder umgekehrt. Aber hat man denn eine Wahl?“. (S. 9)

Karstens Aussagen über die Bedeutung Schnitzlers als Beobachter und Kommentator des Zeitgeschehens sind widersprüchlich und belegen meines Erachtens die Konzeptionslosigkeit des Buches. Einerseits soll laut Prolog „im Folgenden Arthur Schnitzlers Sicht auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung in den Jahren zwischen 1911 und 1919 rekonstruiert werden“, da er „einer der sensibelsten und psychologisch hellsichtigsten Diagnostiker der spätbürgerlichen ‚Welt von gestern‘ mit all ihren Brüchen, Ambivalenzen und Widersprüchen“ (S. 7) gewesen sei. Andererseits bescheinigt ihm der Autor im Kapitel „Kritik und Selbstkritik“: „Im Gegensatz zu den meisten seiner Autorenkollegen im Wien des fin de siècle versagte er sich die Publikation von Buchrezensionen ebenso wie Stellungnahmen zu politischen, künstlerischen oder kunsttheoretischen Problemen“. (S. 181) Angesichts dieses Urteils drängt sich doch die Frage auf, warum Schnitzler in diesem Buch so oft zitiert wird, auch mit Äußerungen zu weltpolitischen Themen. Und letztlich stellt sich die Frage, warum ausgerechnet Schnitzler bemüht werden musste, um den Untergang „Kakaniens“ am Beispiel einer Person nachvollziehbar zu machen.

Ob ein Sachbuch – wenn es denn als ein solches konzipiert wurde – wirklich mit über 580 Anmerkungen versehen werden musste, die nicht als Fußnoten, sondern im Anhang (S. 207–247) zu finden sind und dem interessierten Leser ein ständiges Hin- und Herblättern zumuten, bleibt anzuzweifeln. Immerhin belegen sie, dass von diesem Buch keine neuen Erkenntnisse, wohl aber eine gut recherchierte Zusammenfassung des heutigen Kenntnisstandes zu erwarten sind, wobei die Exkurse zur Frage der italienischen Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges oder zur Rolle des ungarischen Nationalismus als Totengräber der Habsburgermonarchie zwar ausführlich, aber doch sehr einseitig ausfallen.

Gelegentlich ist es von Vorteil, wenn ein Klappentext nicht mehr verspricht, als das Buch zwischen den beiden Deckeln zu halten vermag. Im vorliegenden Fall sollte man das Buch lieber nicht an den Ankündigungen messen, denn lesenswert und informativ ist es allemal, ganz besonders die Lebensbeschreibung der unverdient in Vergessenheit geratenen Stephanie Bachrach.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 164–166.