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Zum Gedächtnis einer »vergessenen deutschen Minderheit«

Von Susanne Clauß

1. Einleitung

Siebenhundert Kilogramm – dieses Gewicht bringen eine Reihe unterschiedlichster Dinge auf die Waage. Zum Beispiel ein Kleinwagen, ein ausgewachsenes Rind oder auch fünfunddreißig Bananenkartons, gefüllt mit mehreren Tausend Fotos, über vierhundert Tonbandkassetten sowie mehreren Tausend schriftlichen Dokumenten. Bei den zuletzt genannten Archivalien handelt es sich um die beiden Nachlässe von Otto Klett und Johannes Niermann, die im Dezember 2008 in das damalige Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde, heute Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE), gelangten.(2) Zentraler Gegenstand der beiden Nachlässe sind die deutschen Siedler aus der Dobrudscha, einer Region an der rumänischen und bulgarischen Schwarzmeerküste.

Die Dobrudschadeutschen gelten heute als »vergessene deutsche Minderheit Rumäniens – und Bulgariens«.3 Dass die Dobrudschadeutschen heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind, hat im Wesentlichen zwei Ursachen. Erstens lebten die Dobrudschadeutschen nur in einem relativ kurzen Zeitraum, genauer gesagt von etwa 1840 bis 1940, in der Dobrudscha. Zweitens war die Anzahl der deutschen Siedler in der Dobrudscha im Vergleich zu der anderer deutscher Minderheiten in Rumänien oder Bulgarien sehr gering. Dies verdeutlichen die Zahlen der Umsiedlung von 1940, in deren Verlauf die Dobrudschadeutschen und auch die deutschen Siedler aus der rumänischen Südbukowina fast vollzählig in die damaligen deutschen Gebiete umgesiedelt wurden. Dirk Jachomowski gibt an, dass sich im Mai 1941 in den Umsiedlungslagern der »Volksdeutschen Mittelstelle«, die seit 1937 eines der SS-Hauptämter bildete und im Wesentlichen für die Um- und Ansiedlung der Volksdeutschen zuständig war, über 52 000 deutsche Siedler aus der Südbukowina befanden. Demgegenüber betrug die Anzahl der Dobrudschadeutschen nur knapp 13 500.(4)

Auch wenn die Dobrudschadeutschen heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind, ist das Wissen über sie nicht verloren. Ziel des Beitrages ist es zu zeigen, dass durch die Archivalien aus den beiden Nachlässen Klett und Niermann ein authentisches Bild von der Geschichte, der Kultur und der alltäglichen Lebenswelt der deutschen Siedler aus der Dobrudscha entstehen kann.

2. Hintergründe der Entstehung der Nachlasssammlung Klett und Niermann

Um die Archivalien richtig einordnen zu können, ist es wichtig, deren Herkunft beziehungsweise die Hintergründe der Entstehung der Nachlasssammlungen zu kennen. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Lebensläufe von Otto Klett (1910–1976) und Johannes Niermann (1940–1998) sehr hilfreich. Klett war selbst Dobrudschadeutscher und hat sich schon während seines Studiums der Erdkunde, Geschichte, Soziologie und Archäologie in Bukarest für die Geschichte und die Kultur der Dobrudschadeutschen interessiert. Bereits 1930 hat er angefangen, bibliografische Angaben von Arbeiten über die Dobrudschadeutschen zu sammeln. Für die Zusammensetzung der Nachlasssammlung Kletts ist außerdem sein Dienst als stellvertretender Kulturreferent im so genannten »Kommando Dobrudscha« von zentraler Bedeutung. Das »Kommando Dobrudscha« war als Einheit der »Volksdeutschen Mittelstelle« für die praktische Durchführung der Umsiedlung der Dobrudschadeutschen zuständig. Die Aufgabe von Klett im Umsiedlungskommando bestand darin, das Kulturgut der Dobrudschadeutschen sicherzustellen und nach Deutschland zu bringen. Infolge der Mitgliedschaft Kletts im Umsiedlungskommando befinden sich in seinem Nachlass einige Dokumente, die im Zusammenhang mit der Umsiedlung der Dobrudschadeutschen stehen und Aufschluss über den Verlauf und die Umstände der Umsiedlung geben können.

Ebenfalls sehr wichtig für die Zusammensetzung der Dokumente aus dem Nachlass von Klett war seine Arbeit als Redakteur und Herausgeber des Jahrbuchs der Dobrudschadeutschen, das von 1956 bis 1977 erschienen ist. Klett rief die Dobrudschadeutschen immer wieder dazu auf, ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben und ihm Fotos aus der alten und neuen Heimat zu schicken, damit er sie im Jahrbuch der Dobrudschadeutschen veröffentlichen konnte. Diese Dokumente machen heute einen großen Teil des Nachlasses von Klett aus. Welche Funktion Klett der Veröffentlichung der Dokumente und dem Jahrbuch beimaß, wird im Vorwort der ersten Ausgabe des Jahrbuchs der Dobrudschadeutschen von 1956 deutlich. Darin schreibt Klett:

Wie lange wird es noch, nach dem was in den letzten 15 Jahren geschehen ist, ein Dobrudschadeutschtum geben? – Nicht mehr lange. – Aus diesem ›Nicht mehr lange‹ ergeben sich für die heute Lebenden eine Reihe von Aufgaben. – Die Gemeinschaft aus dem ehemaligen Siedlungsgebiet […] besteht zwar in gewissem Grade auch heute noch […]. Doch nur so lange, bis die Letzten, die ihre alte Heimat bewußt erlebt haben, ausgestorben sind. Von den sich ergebenden Aufgaben steht die des Chronisten an erster Stelle. – Dem Chronisten behilflich sein, ihm Unterlagen zu geben, ist die wichtigste Aufgabe des Jahrbuches.(5)

Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass Klett die Dokumente von den und über die Dobrudschadeutschen in erster Linie mit dem Ziel sammelte, das Wissen über sie zu bewahren, bevor es mit dem Ableben der Zeitzeugengeneration verloren geht.

Nach Kletts Tod übernahm Johannes Niermann dessen Nachlass. Niermann war Professor für Vergleichende Pädagogik an der Universität in Köln. Anders als Klett ging es Niermann nicht darum, so viel Wissen wie möglich über die Dobrudschadeutschen zu sammeln, sondern Erkenntnisse über Prozesse der Integration von Minderheiten zu gewinnen. In Bezug auf die Dobrudschadeutschen zielte das Forschungsinteresse Niermanns darauf ab, herauszufinden, inwieweit die Dobrudschadeutschen ihre »ethnischen Wurzeln«(6) in der multiethnischen Region der Dobrudscha bewahrten bzw. sich ihrem Lebensumfeld anpassten. Neben den Dokumenten aus dem Nachlass von Klett dienten Niermann Interviews mit über achtzig Dobrudschadeutschen, die er im Rahmen einer mehrjährigen Forschungsstudie führte, dazu, diese Fragen zu beantworten. Die Tondokumente aus dieser Interviewstudie befinden sich heute im Tonarchiv des IVDE. Thematisch reichen die Interviews allerdings weit über die ursprüngliche Fragestellung Niermanns hinaus und umfassen fast alle Bereiche des Lebens der Dobrudschadeutschen. Zum einen werden in den Interviews positive Erinnerungen an die alltägliche Lebens- und Arbeitswelt in der alten Heimat in der Dobrudscha und das Leben in der neuen Heimat in Deutschland thematisiert. Zum anderen sind aber auch schwierige Erfahrungen, wie die der Umsiedlung von 1940, Gegenstand der Interviews.

Zu diesen drei Themenbereichen sollen im Folgenden verschiedene Archivalien aus den beiden Nachlässen in Form von Auszügen aus schriftlichen Dokumenten, Ausschnitten aus Niermanns Interviews sowie Fotos mit Bezug zur Dobrudscha und den Dobrudschadeutschen vorgestellt werden.

3. Das Leben der Dobrudschadeutschen in Bild, Ton und Schrift

Bei der Durchsicht der Archivalien aus den beiden Nachlässen stellt man schnell fest, dass das Leben der deutschen Siedler in der Dobrudscha entscheidend von der landwirtschaftlichen Arbeit geprägt war. So geht aus einem Dokument im Nachlass von Klett hervor, dass 1942 von den etwas mehr als 1400 Familien, die für eine Ansiedlung im Protektorat Böhmen und Mähren vorgesehen waren, ca. 1200 Familien in der Landwirtschaft und nur etwa 140 Familien im gewerblichen Bereich tätig waren.(7)

Das wohl wichtigste Ereignis und die arbeitsintensivste Zeit im Jahr des Dobrudschadeutschen Bauern war die Zeit der Ernte. In den Erinnerungen der Dobrudschadeutschen an ihre alte Heimat und an die Erntezeit in der Dobrudscha ist speziell die Maisernte ein häufig erwähntes Thema.

Abb. 1 ist ein Foto aus dem Nachlass Klett und zeigt eine Reihe junger Männer und Frauen beim Schälen der geernteten Maiskolben. Die Maiskolben wurden zuvor per Hand von den Maisstängeln gebrochen, auf einen Wagen geladen und auf den Hof gebracht. Am Abend wurde der Mais dann geschält. Bei dieser Arbeit saßen etwa fünfzehn bis zwanzig Personen zusammen. Die Dobrudschadeutschen nannten diese Arbeit »Bobscheblatta«, wobei »Bobsche« ein Wort für Mais ist, das die Dobrudschadeutschen aus Bessarabien mitbrachten, wo sie vor ihrer Einwanderung in die Dobrudscha lebten.

Ein Dobrudschadeutscher aus Cogealia beschreibt in einem im Rahmen des Forschungsprojekts von Niermann geführten Interview die Atmosphäre während des »Bobscheblatterns«:

Natürlich hat man auch was getrunken, gesungen, gelogen. Gelogen? [Nachfrage der Interviewleiterin – Hervorhebung und Anm. S. C.] Gelogen! Wie beim Jägerlatein. Muss man doch, net? Angeben, net? Und da war einer, der hat mir da widersprochen: ›Du lügst ja, Du lügst!‹ Da hat es die Gaudi gegeben. Das war sogar schön. Nun hat es beim Mais oft gegeben, einen ganz roten Kolben. Und wehe ein Mädel hat so einen Kolben erwischt und hat den aufblattert und ein andrer hat es gesehen – die muss jetzt geküsst werden. Und die hat sich gewehrt und so weiter. Nix da. Da, hat nix geholfen, weil sie einen roten erwischt hat. […] Wer durfte denn das Mädchen dann küssen? [Nachfrage der Interviewleiterin – Hervorhebung und Anm. S. C.] Ja, der wo der Nächste war. Das hat es nicht gegeben, dass es sein Schatz war oder dem sein Schatz. Da ist nun keine Rücksicht genommen worden.(8)

Vor dem Hintergrund, dass derjenige neben dem Mädchen mit einem roten Maiskolben dieses küssen durfte, ergibt die abwechselnde Sitzreihenfolge von Männern und Frauen in Abb. 1 einen neuen Sinn. Im Zusammenhang mit den Erinnerungen der Dobrudschadeutschen an ihre alte Heimat ist interessant, dass sie sich trotz der Schwere und der Last der landwirtschaftlichen Arbeit fast immer auch an lustige und fröhliche Situationen erinnerten. So ist die Zeit der Maisernte in den Erinnerungen der Dobrudschadeutschen nicht nur die Zeit, in der man von frühmorgens bis spät in die Nacht schwere körperliche Arbeit verrichten musste, sondern auch die Zeit, in der das Mädchen mit einem roten Maiskolben geküsst werden durfte.

Der entscheidende Wendepunkt im Leben der Dobrudschadeutschen war die Umsiedlung im November 1940, nach der die meisten Dobrudschadeutschen nie wieder auf Dauer in ihre alte Heimat zurückkehrten. Klett hat im Jahrbuch der Dobrudschadeutschen die damalige, für November sehr ungewöhnliche Wetterlage während der Umsiedlung wie folgt beschrieben:

Der Monat November ist ja, wenn man für solch eine Aktion gutes Wetter haben will, als ausgesprochen spät anzusehen. […] [Doch das] Land lag fast alle Tage während der Umsiedlung im prächtigsten Sonnenscheine da. Eine herrliche Fernsicht ließ jeden noch einmal alles klar in sich aufnehmen. Ein tiefblauer, hoher Himmel ergab eine besondere Weihestimmung. Wer damals durch das Land fuhr, wird diese Tage nicht vergessen können.(9)

Abb. 2 und Abb. 3 wurden in Kobadin/Cobadin, Kletts Geburtsort, kurz vor der Umsiedlung im November 1940 aufgenommen. Die langen, deutlich erkennbaren Schatten auf den beiden Fotos bestätigen die Aussage über den strahlenden Sonnenschein während der Umsiedlungsaktion. Die Bilder stammen aus einer Art Fotoalbum im Nachlass Klett. Abb. 2 trägt den Titel »Zum Empfang des Umsiedlungskommandos wurde unsere Schule festlich geschmückt« und Abb. 3 die Überschrift »Leute, die aus der Schule kommen, wo sie sich zur Umsiedlung anmelden«.

Es liegt wohl in der Mitgliedschaft Kletts im »Umsiedlungskommando Dobrudscha« begründet, dass diese Bilder in seinem Nachlass zu finden sind. Dies trifft auch für den folgenden Bericht eines Taxators zu. Taxatoren, meist so genannte »Reichsdeutsche«, hatten die Aufgabe, das Vermögen der Dobrudschadeutschen, das im Zuge der Umsiedlung zurückgelassen wurde, zu schätzen. Dieses Vermögen ging in den Besitz des rumänischen Staates über, dem dadurch eine Schuld gegenüber dem deutschen Staat in Höhe des geschätzten Umsiedlervermögens entstand.(10) Ortfried Kotzian gibt an, dass der rumänische Staat diese Schulden während des Krieges durch Lieferungen von Erdöl und Getreide weitgehend begleichen konnte.(11)

Der im Folgenden zitierte Bericht wurde von einem Taxator über seine Arbeit in Cobadin geschrieben:

Herzlich ist der Empfang, als wir am Sonntag, den 3. November in Kobadin eintreffen. Vom Kreisleiter […] und vom Ortsleiter […] begrüßt, werden wir in das Schul- und Lehrerhaus geführt, in dem wir unsere Arbeitsräume einrichten. […] Allenthalben hat sich die nun beginnende grosse [sic!] Aktion unseres Führers schon herumgesprochen; zumindesten hat ein jeder im Lande mit einer Umsiedlung gerechnet.(12)

Insgesamt entsteht in dem Bericht des Taxators der Eindruck, dass die Umsiedlung eine sehr einvernehmliche Aktion war und dass die Dobrudschadeutschen lange vor November 1940 über die Umsiedlung informiert worden waren. Dass dies jedoch offensichtlich nicht immer der Fall war, zeigt folgender Ausschnitt aus einem Interview, das im Rahmen von Niermanns Forschungsprojekt geführt wurde. Darin sagt eine Dobrudschadeutsche über die Informationen zur Umsiedlungsaktion:

Ich glaube, wir haben das so vierzehn Tage, drei Wochen vorher erfahren, dass wir umgesiedelt werden. Wir hatten nichts, vorher nichts gewusst. Man hat zwar gesprochen, manchmal davon, dass manche Leute nach Deutschland können, wenn sie wollen. Aber man hat nichts gewusst. Also wir haben nichts gewusst von der Umsiedlung. […] Jedenfalls kam dann eines Tags eine Kommission und in der Kirche, das war der größte Raum, wurde versammelt und ausgemacht, dass wir dann und dann ausgesiedelt werden.(13)

Bei der Gegenüberstellung dieses Interviews mit einer Dobrudschadeutschen und des Berichtes des Taxators wird deutlich, dass dieselbe Situation völlig unterschiedlich eingeschätzt und erinnert wurde. Diese Tatsache verweist auf eine der größten Stärken der beiden Nachlässe Klett und Niermann. Denn durch die Vielfalt der Urheber der verschiedenen Archivalien können viele verschiedene subjektive Wahrnehmungen und Erinnerungen gegeneinander abgewogen werden. Und so kann ein sehr ausgeglichenes und facettenreiches Bild von der Geschichte und vom Leben der Dobrudschadeutschen entstehen.

Das Leben der Dobrudschadeutschen war im Herbst 1940 in erster Linie von der Umsiedlung und den Vorbereitungen auf diese bestimmt. Doch für einige Dobrudschadeutsche ist der Herbst 1940 noch mit einem anderen, lebensprägenden Ereignis verbunden. Zu ihnen gehören auch die beiden Paare in Abb. 4.

Diese zeigt die letzte Trauung zweier dobrudschadeutscher Brautpaare in Tariverde im Herbst 1940. Über solche Hochzeiten unmittelbar vor der Umsiedlung lassen sich in den beiden Nachlässen von Klett und Niermann immer wieder verschiedene Berichte finden, wie z. B. folgender Ausschnitt aus einem Interview aus Niermanns Forschungsprojekt. Darin sagt ein Dobrudschadeutscher über seine Hochzeit kurz vor der Umsiedlung Folgendes:

Zehnter November 1940 haben wir dann unseren Hochzeitstag gehabt. […] Das Großgepäck war schon praktisch alles eingepackt, sodass wir nicht mehr ein großes Fest gefeiert haben, weil es war 10.11. und acht Tage darauf ging schon die Umsiedlung zustatten. […] Dann sind wir eingeladen worden nach Konstanza in den Bahnhof, von da geht es mit dem Zug an die Donau – Cernavodă […]. Und da wurden wir eingeschifft. Auf die Donauschiffe. […] Und so gesagt, das war dann unsere Hochzeitsreise auf dem Schiff, auf dem schönen Luxusdampfer ›Stadt-Wien‹.(14)

In diesem kurzen Interviewausschnitt wird deutlich, dass die Dobrudschadeutschen selbst schwierige Erlebnisse wie das der Umsiedlung 1940 im Nachhinein nicht ausschließlich negativ, sondern mit einer gewissen Ironie betrachten. So vergleicht der Erzähler die Verschiffung der Dobrudschadeutschen Umsiedler in die Sammellager in Semlin bei Belgrad mit einer Hochzeitsreise auf einem Luxusdampfer.

Fünfzig Jahre später feierte ein dobrudschadeutsches Ehepaar, das sich im Mai 1940 in der Dobrudscha das Jawort gab, in Nordhausen bei Heilbronn die Goldene Hochzeit. Der Ablauf der Feierlichkeiten anlässlich dieses Jubiläums wurde auf Videoband aufgenommen. Eine Kopie des Bandes ist im Nachlass von Niermann enthalten und befindet sich heute im Filmarchiv des IVDE. Im Rahmen der Feierlichkeiten der Goldenen Hochzeit sind verschiedene Repräsentanten und Vereine der Dobrudschadeutschen aufgetreten. Dazu zählt zum Beispiel die Singgruppe »Die lustigen Dobrudschaner«. Sie sangen während ihres Auftrittes ein Lied, das an die verlorene alte Heimat in der Dobrudscha erinnern sollte und in der ersten Strophe folgenden Text hat:

Es gibt ein schönes Land,
Euch allen wohl bekannt.
Es liegt am Schwarzmeerstrand,
war einst mein Heimatland.
Ich denke oft zurück an jene schöne Zeit.
Ich war so glücklich dort, es liegt so weit.
Oh, du mein Heimatland am schönen Schwarzmeerstrand. Die Felder ohne Zahl sind mir so wohlbekannt.
Oh, schöne Dobrudscha, dich grüß ich immerzu.
Oh, mein Heimatland, wie schön bist du.

Durch Textstellen wie »Es gibt ein schönes Land, / Euch allen wohl bekannt« wird an die Herkunft aus einer gemeinsamen Heimat erinnert, was nicht zuletzt zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls unter den Dobrudschadeutschen beiträgt. Die Erinnerung an die alte Heimat wurde im Rahmen der Feierlichkeiten auch durch eine Reihe weiterer Repräsentanten und Vereine der Dobrudschadeutschen wachgerufen. Zu ihnen zählen die Sing- und Tanzgruppe der Dobrudschadeutschen, die Tänze aus der alten Heimat aufführte, sowie ein Vertreter der Landsmannschaft der Dobrudschadeutschen. Dieser hat in seiner Rede den Lebensweg des Brautpaares nachgezeichnet, der schon in den ersten Ehejahren von den Erfahrungen der Umsiedlung im November 1940 und der »verunglückten Ansiedlung« geprägt war.(15) Zugleich betonte der Vertreter der Landsmannschaft, dass nicht nur das Brautpaar, sondern alle »Dobrudschaner« diese »nicht so leichten Zeiten« durchlebt haben, wodurch unweigerlich das Bild von einer Schicksalsgemeinschaft aller Dobrudschadeutschen entsteht.(16)

Die Einbeziehung offizieller Repräsentanten und Vereine der Dobrudschadeutschen in dieses familiäre Fest zeigt, dass für die Dobrudschadeutschen ihre Herkunft aus der Dobrudscha und ihre Verbundenheit mit der alten Heimat auch fünfzig Jahre nach der Umsiedlung nicht vergessen waren und noch immer eine zentrale Bedeutung für sie hatten. Das gemeinsame Singen der alten Lieder und gemeinsame Tanzen der alten Choreografien dienten dabei nicht nur der Fortführung alter Bräuche und Traditionen, sondern auch als Bestätigung des Fortbestehens der alten Gemeinschaft.

4. Zusammenfassung

Auch wenn die Dobrudschadeutschen im gesamtgesellschaftlichen Gedächtnis in Deutschland die Rolle einer »vergessenen deutschen Minderheit« einnehmen, lässt sich feststellen, dass das Interesse an dieser Gruppe als wissenschaftliches Forschungsfeld in den letzten Jahren gestiegen ist. So thematisierten 2012 und 2013 zwei Themenabende die Geschichte der Dobrudschadeutschen, von der auch Teilaspekte, wie die Erlebnisse der Dobrudschadeutschen während des Ersten Weltkrieges, im Fokus der Veranstaltungen standen.(17) Anhand der verschiedenen Beispiele für Berichte, Fotos und Interviews aus den Nachlässen von Klett und Niermann hat sich gezeigt, dass sie authentische Einblicke in die Geschichte und die Kultur der Dobrudschadeutschen geben können, was sie zu einer wichtigen Quelle für die weitere Erforschung dieses Themenfeldes macht.

Nach einer grundlegenden Systematisierung und Kategorisierung werden derzeit alle Bilder, Tonquellen und schriftlichen Dokumente in den beiden Nachlässen von Klett und Niermann in jeweils eigenen Datenbanken erfasst. So sind bereits über 500 Fotos in der Online-Bilddatenbank des IVDE verfügbar, wodurch es auch mehr als siebzig Jahre nach dem Ende der deutschen Siedlung in der Dobrudscha möglich ist, sich ein »Bild« vom Leben der Dobrudschadeutschen zu machen.(18) Dies ist nach Meinung der Autorin die wichtigste Funktion der Archivalien in den beiden hier vorgestellten Nachlässen. Durch Bilder, Berichte und Interviews ist es möglich, einen facettenreichen Eindruck von der alltäglichen Lebenswelt der Dobrudschadeutschen zu bekommen. Facettenreich vor allem auch deshalb, weil die Dokumente aus den beiden Nachlässen von vielen unterschiedlichen Verfassern stammen und damit viele verschiedene Sichtweisen auf die Kultur und die Geschichte der Dobrudschadeutschen ermöglichen. So enthalten die beiden Nachlässe nicht nur Archivalien über, sondern auch Dokumente von den Dobrudschadeutschen selbst. Erst durch diese Tatsache ist es möglich, die heute in Vergessenheit geratene Geschichte und Kultur der Dobrudschadeutschen auch aus deren Perspektive zu betrachten, weshalb die beiden Nachlässe Klett und Niermann mit Recht als Gedächtnis der vergessenen deutschen Minderheit der Dobrudschadeutschen bezeichnet werden können.

 

Susanne Claus, M. A., 1986 in Dresden geboren, studierte von 2004 bis 2010 Neuere und Neueste Geschichte und Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz und der Universität von Toulouse II Le Mirail. Sie arbeitet am Institut für Volkskunde der deutschen des östlichen Europa in Freiburg i. Br. (IVDE), im Bereich »Archiv und Dokumentation« und ist seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Größere Studien von ihr sind u. a. den im IVDE aufbewahrten Nachlässen von Otto Klett und Johannes Niermann sowie Themen der Geschichte und Volkskunde der Dobrudschadeutschen gewidmet. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Titel: Die Dobrudschadeutsche Nordamerikaauswanderung der 1950er Jahre. Zur Funktionsweise eines Netzwerkes im Migrationsprozess.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2014), Jg. 10 (64), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 49–58.

(1) Die Bezeichnung der Dobrudschadeutschen als »vergessene deutsche Minderheit« stammt aus dem Ankündigungstext für einen Themenabend zu den Dobrudschadeutschen, der 2012 in Berlin und München stattfand. Vgl. Thomas Schares: Donaudelta & Dobrudscha. Eine kurze Geschichte der Dobrudschadeutschen. In: http:// www.kulturforum.info/de/topic/1000014.veranstaltungen.html?id=1019868, zuletzt aufgerufen am 12. August 2013. Im Rahmen dieser Veranstaltung hielt die Autorin einen Vortrag, dessen Ergebnisse im folgenden Beitrag festgehalten sind. Für einen ausführlichen Bericht zum Thementag in München vgl. Albert Weber: »Vergessene Deutsche« – ein ergiebiges Forschungsfeld. Thementag zur Dobrudscha und zu den Dobrudschadeutschen in München. In: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, 8 (2013) 1, S. 68–71.

(2) Seit dem 1. August 2013 trägt das ehemalige Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde den Namen Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (IVDE). Zur Umbenennung des Instituts vgl. Werner Mezger: O. T. In: http://www.jkibw.de/, zuletzt aufgerufen am 12. August 2013.

(3) Vgl. Thomas Schares: Donaudelta & Dobrudscha. Eine kurze Geschichte der Dobrudschadeutschen. In: http:// www.kulturforum.info/de/topic/1000014.veranstaltungen.html?id-1019868, zuletzt aufgerufen am 12. August 2013.

(4) Vgl. Dirk Jachomowski: Die Umsiedlung der Bessarabien-, Bukowina- und Dobrudschadeutschen. Von der Volksgruppe in Rumänien zur »Siedlungsbrücke« an der Reichsgrenze. München 1984, S. 130.

(5) Otto Klett: Vorwort. In: Jahrbuch der Dobrudschadeutschen (im folgenden JDD), 1 (1956), S. 5.

(6) Interview mit Monika M. Niermann am 20. Juli 2011 in Kluse, IVDE-Tonarchiv.

(7) Vgl. O. A.: Ansiedlung der Dobrudscha-Umsiedler im Protektorat. Übersicht über Personenzahl und Berufsaufgliederung, Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa (im Folgenden IVDE), Freiburg i. B., Nachlass Otto Klett / Johannes Niermann, 4/1/701, S. 1.

(8) Interview mit J. G. aus Cogealia, IVDE-Tonarchiv, Nachlass Johannes Niermann.

(9) Otto Klett: Die Umsiedlung der Dobrudschadeutschen im Jahre 1940. In: JDD, 1 (1956), S. 26.

(10) Vgl. Vereinbarung zwischen der Deutschen Regierung und der Königlich Rumänischen Regierung über die Umsiedlung der deutschstämmigen Bevölkerung in der Südbukowina und der Dobrudscha in das Deutsche Reich, IVDE, Nachlass Otto Klett / Johannes Niermann; 4/1/523, S. 9.

(11) Vgl. Ortfried Kotzian: Die Umsiedler. Die Deutschen aus West-Wolhynien, Galizien, der Bukowina, Bessarabien, der Dobrudscha und in der Karpatenukraine. München 2005, S. 271.

(12) K. T.: Abschrift. Als Taxator in der Dobrudscha Gebiet Do 7 (Kobadin), IVDE, Nachlass Otto Klett / Johannes Niermann; 4/1/485, S. 3f.

(13) Interview mit R. H. aus Cogealac, IVDE-Tonarchiv, Nachlass Johannes Niermann.

(14)  Interview mit W. M. aus Cogealia, IVDE-Tonarchiv, Nachlass Johannes Niermann.

(15)  Über den Ort der Ansiedlung wird in der Festrede nicht gesprochen. Aus einem Aufsatz im Heimatbuch der Dobrudschadeutschen 1840 – 1940, Heilbronn 1986, geht hervor, dass das Ehepaar in der Steiermark angesiedelt
werden sollte, vgl. Heimatbuch der Dobrudschadeutschen, S. 172.

(16) Vgl. Goldene Hochzeit von E. H. und T. H. am 2. 5. 1990 in Nordhausen bei Heilbronn, IVDE-Filmarchiv, Nachlass Johannes Niermann, Vk 096.

(17) Am 6. Mai 2013 fand im Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde, heute IVDE, der Themenabend »Die Dobrudschadeutschen und der Erste Weltkrieg in Selbst- und Fremdbildern« statt. Ein ausführlicher Bericht zum Themenabend vgl. Susanne Clauß: Die Dobrudschadeutschen und der Erste Weltkrieg. Themenabend im Johannes-Künzig-Institut für ostdeutsche Volkskunde. In: Mitteilungsblatt des Bessarabiendeutschen Vereins e.V., 68 (2013) 8, S. 15f.

(18) Zur Online-Bilddatenbank des IVDE vgl. Teresa Volk: Ein Bildarchiv geht online. Das neue Datenbankprojekt des Johannes-Künzig-Instituts für ostdeutsche Volkskunde [seit 1. 8. 2013 Institut für Volkskunde der Deutschen des östlichen Europa – Anm. S. C.], Freiburg. In: Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 52 (2011), S. 41–59.

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