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Wiebke Sievers: Grenzüberschreitungen | Rezension

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Wiebke Sievers (Hg.): Grenzüberschreitungen. Ein literatursoziologischer Blick auf die lange Geschichte von Literatur und Migration. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2016. 294 S.

Von Klaus Hübner

Seit Ende 2012 beschäftigt sich das Wiener Forschungsprojekt »Literature on the Move« mit der Literatur nach Österreich immigrierter Autorinnen und Autoren. In enger Zusammenarbeit von Holger Englerth, Silke Schwaiger und Wiebke Sievers, die bei diesem Projekt engagiert tätig sind, entstand der hier anzuzeigende Sammelband, der sich mit aktuellen Entwicklungen dieses literarischen Feldes auseinandersetzt, aber eben auch die »lange Geschichte« von Literatur und Migration in den Blick nimmt.

Dieser Blick ist ein literatursoziologischer, und er muss es sein. Denn das oft beschworene »Dazwischen«, in dem sich die in ein neues Land und eine neue Sprache Zugewanderten befinden, gelte seit mehr als zwanzig Jahren in den Kulturwissenschaften nicht mehr als feste Position, »sondern als ein Raum, in dem kulturelle Veränderungen ausgehandelt werden, ohne dass neue Hegemonien entstehen«, erklärt die Herausgeberin in ihrer instruktiven Einleitung (S. 10). Durch literaturwissenschaftliche Textanalysen allein sei dieser Raum nicht zu erfassen und zu interpretieren, weshalb man sich beim genannten Projekt weitgehend und ganz grundsätzlich auf einschlägige Arbeiten von Pierre Bourdieu stützt, »weil sie soziologische Untersuchungen zum literarischen Feld mit der Analyse literarischer Texte verbinden« (S. 12). Damit ist der theoretische und methodologische Rahmen markiert, und dass er sich für das Forschungsfeld »Migrationsliteratur« besonders gut eignet, machen die hier versammelten sieben Studien deutlich.

Was die interkulturell profilierte Literatur und deren Verfasserinnen und Verfasser angeht, sei – gewiss für den gesamten deutschen Sprachraum, also weit über Österreich hinaus – zunächst einmal festzuhalten, dass »Anerkennung und Ausgrenzung oft miteinander einhergehen« (S. 17). Das gilt auch und gerade dort, wo die Kosmopolitisierung der Literatur als literarische Lockerung ethnischer, nationaler und religiöser Fixierungen begrüßt und gefördert wird – einerseits gibt es renommierte, in der literarischen Öffentlichkeit präsente und mit angesehenen Preisen bedachte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Zsuzsanna Gahse, Terézia Mora, Feridun Zaimoglu, Ilija Trojanow oder Michael Stavarič, andererseits werden die meist unter dem schillernden, in sich selbst widersprüchlichen Begriff »Migrationsliteratur« subsumierten Texte oft lediglich als (erwünschte oder weniger erwünschte) Ergänzungen zur jeweiligen »Nationalliteratur« gesehen. Und noch immer werden Erzählungen aus den Herkunftsländern oder Erzählungen von Migrationserfahrungen gern als »Quelle der Information über fremde Welten« wahrgenommen und nicht als ästhetische Gebilde von bisweilen hoher literarischer Qualität (S. 17). Viele Aussagen interkulturell profilierter Autorinnen und Autoren bestätigen das. Die Fragen aus dem Publikum, denen sie sich nach ihren Lesungen zu stellen haben, gehen immer wieder in diese Richtung – wobei es merkwürdigerweise kaum eine Rolle zu spielen scheint, ob die Fragenden über das Phänomen der »Migrationsliteratur« bestens oder nur wenig informiert sind. Holger Englerth führt in seiner Studie über das bisherige Schaffen des aus Albanien nach Wien gelangten Ilir Ferra vor, wie der im Land seiner Herkunft spielende Roman Rauchschatten (2010) und sein in einem multikulturellen und multilingualen Wiener Wettlokal spielender Roman Minus (2014) mehrheitlich rezipiert wurden. »Beide Romane liefern keine ›realistischen‹ Abbilder des von ihnen Dargestellten, sondern entziehen sich durch ihre reflektierten Erzählverfahren einer wie auch immer gearteten ›Eindeutigkeit‹. In beiden Texten steht dabei die ›Macht des Erzählens‹ in der Kritik« (S. 201). Dennoch wurde Rauchschatten als »Autobiografie« und Minus als »Reportage« gelesen – beide Romane wurden dadurch mit dem Siegel der »Authentizität« belegt und immer wieder darauf reduziert, »authentische Einblicke in fremde Welten zu bieten« (S. 202). Die zahlreichen Rezensionen von Rauchschatten widmeten sich kaum der sprachlich-literarischen Gestaltung des Textes, sondern vor allem der Frage, »inwieweit hier typische albanische ›Realität‹ dargestellt oder Allgemeingültiges, über die Schilderung von Konkretem Hinausgehendes enthalten ist« (S. 228). Dass man einen zugewanderten Autor vor sich hat, scheint, so Englerth, immer wieder dazu zu führen, »ihn in die Rolle eines Repräsentanten geraten zu lassen, sei es für das Land seiner Herkunft, sei es für seine Existenz als Zuwanderer« (S. 230).

In Österreich ging und geht es, nicht zuletzt wegen seiner habsburgischen Vergangenheit, in Sachen »Migrationsliteratur« etwas anders zu als in Deutschland oder der Schweiz. Das Erbe der vor 1918 entstandenen transnationalen Kulturnation, »die nicht nur alle deutschsprachigen Menschen und Länder einbezog, sondern auch für jene offenstand, deren Muttersprache nicht Deutsch war, solange sie sich der Hegemonie der deutschen Sprache und der deutschsprachigen literarischen Tradition unterordneten« (S. 19), wirkte nach 1945 fort und scheint auch heute nicht ohne Relevanz zu sein. Mehr als nur nahegelegt wird dies vom ersten Teil des Buches, »Die selbstverständliche Aufnahme von Zuwanderern im Literaturbetrieb bis in die 1950er-Jahre« überschrieben, der aufschlussreiche Studien über Elias Canetti (Wiebke Sievers), Milo Dor (Holger Englerth)und György Sebestyén (Silke Schwaiger) umfasst und nachweist, dass diese drei Autoren nicht deutscher Muttersprachen – und noch einige mehr – relativ problemlos ins deutschsprachige literarische Leben Österreichs vom Kriegsende bis in die 1960er-Jahre integriert wurden. Erst für die 1970er- und 1980er-Jahre sei eine gewisse »Nationalisierung des literarischen Feldes in Österreich« feststellbar – wobei ungefähr zur gleichen Zeit, beginnend mit der Veröffentlichung des Romans Der Zögling Tjaž von Florjan Lipuš in der deutschen Übersetzung von Peter Handke und Helga Mračnikar, ein »Goldenes Dezennium« für die Literatur der Kärntner Slowenen begonnen habe (S. 29) . Mit literarischer Interkulturalität und Mehrsprachigkeit tat man sich rund dreißig Jahre lang meist schwer, und von der tatsächlichen Überwindung der »Ausgrenzung« zugewanderter Autorinnen und Autoren wird man wohl erst seit der Jahrtausendwende sprechen können. Im deutschen Sprachraum hat der von 1985 bis 2017 vergebene Adelbert-von-Chamisso-Preis maßgeblich dazu beigetragen, und in Österreich, speziell in Wien, hat der seit 1997 vergebene Literaturpreis »schreiben zwischen den kulturen« viel bewirkt – für Schriftstellerinnen wie Julya Rabinowich und Seher Çakır, aber auch für Chamisso-Förderpreisträger wie Vladimir Vertlib, Dimitré Dinev, Radek Knapp oder Ilir Ferra war dieser Preis nicht ganz unwichtig.

Die Studien im zweiten Teil dieses Buches – Holger Englerth schreibt nicht nur über Ilir Ferra, sondern auch über Seher Çakır, und Silke Schwaiger befasst sich mit Stanislav Struhar und Tanja Maljartschuk – deuten aber auch an, dass es für zugewanderte Autorinnen und Autoren selbst im heutigen österreichischen Literaturbetrieb noch Grenzen gibt. »Andauernde Grenzziehungen«, so die Herausgeberin, »zeigen sich insbesondere im Bereich der Mehrsprachigkeit« (S. 32). Hier gehe es nicht nur um die Frage, ob diese innerhalb literarischer Texte möglich ist und wie sie dann kreativ eingesetzt werden kann – man erinnere sich an den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann- Wettbewerb 2016 mit seinen Debatten um die Texte von Sharon Dodua Otoo und Tomer Gardi. Für Wiebke Sievers geht es darüber hinaus auch darum, inwieweit die (noch) nicht auf Deutsch schreibenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Österreich Anerkennung finden (S. 33). Damit ist ein Bereich interkulturellen literarischen Schreibens angesprochen, der in den nächsten Jahren gewiss noch wichtiger wird, als er heute schon ist – und das ist sicher nicht die einzige zukunftsweisende Anregung, die diesen Grenzüberschreitungen zu verdanken ist.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 118–120.

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