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Ioana Pârvulescu: Wo die Hunde in drei Sprachen bellen | Rezension

„Mit sympathischer Tinte geschrieben“

Ioana Pârvulescu: Wo die Hunde in drei Sprachen bellen. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2021. 363 S.

 

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Von Enikő Dácz

Ioana Pârvulescus Roman ist ein Zitat von Dostojewskij vorangestellt, das ein zentrales Thema ankündigt: „Wenn man ins Leben viele solche Erinnerungen mit sich nehmen kann, so ist der Mensch für sein ganzes Leben gerettet“. Dabei schaffen Erinnerungen eine Vergangenheit, die laut den Schlusszeilen des Buches „mit sympathischer Tinte geschrieben“ (S. 361) ist und angehaucht werden muss, um sichtbar zu werden. Einfühlsam und im Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit werden die Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählerin beziehungsweise von vier Kindern, die in einem Haus in der Strada Maiakowski in Kronstadt wohnen, aufgeschrieben. Der rumänische Originaltitel Inocenții [Die Unschuldigen] bezieht sich auf diese vier Kinder, während der vom Verlag bevorzugte deutsche Titel des Romans die multikulturelle Stadt, die „eine Art rumänisches London“ war, da man nicht ohne Regenmantel ausgehen konnte (S. 55), in den Fokus rückt.

Die Ich-Erzählerin präsentiert dem direkt angesprochenen lesenden Du (S. 19) die vergangene Welt aus einer kindlich naiven Perspektive: „Weil du nicht in Siebenbürgen aufgewachsen bist und keine Geschwister oder Cousins in der Honterus-Schule hattest, muss ich dir erklären, dass diese Bahnen Glitschen hießen, von glitschen wie rutschen. Auch die Wörter selbst rutschten in Kronstadt von einer Sprache in die andere, mit hoher Geschwindigkeit und Grazie, als trügen sie Schlittschuhe“ (S. 287). Damit im Einklang müssen die vier Kinder zusätzlich zu den lokal gesprochenen Sprachen (Rumänisch, Ungarisch, Deutsch) auch ein bisschen Englisch, Italienisch und Französisch lernen. Ihre Sprachlehrerin beziehungsweise Tante spricht sogar Esperanto, und ihr stets ironischer Onkel bemerkt diesbezüglich: „Wenn doch auch die Hunde in drei Sprachen bellten, war es eine Schande, dass wir weniger Fremdsprachen konnten als ein Vierbeiner“ (S. 38). In einer der zahlreichen humorvollen Szenen prüft dann die Ich-Erzählerin die Mehrsprachigkeit der Hunde.

Als Hauptperson des Romans wird auch das „Haus in der Strada Maiakowski (ehemals und nachmals Sfântu Ioan)“ (S. 10) präsentiert. Es hat, wie die anderen Häuser der Straße, ein menschliches Gesicht und einen „Lebenslauf“, auf den das erste Kapitel eingeht und zu dem auch die Vorstellung der Bewohner gehört, dass sie das Haus „frisst“ beziehungsweise ausspuckt, da sie durch seinen Mund ein- und ausgehen. Allerdings „[kommen] sehr viele Irrungen und Wirrungen in einem Haus […] von ihnen, von den unsichtbaren Menschen“ (S. 53), sodass die mit dem Gebäude verbundenen Geschichten ein von kindlicher Naivität und Ehrlichkeit geprägtes Gesellschaftspanorama ergeben, das aus der sehr reichen Kronstadt-Literatur heraussticht.

Die Schilderungen kindlicher Abenteuer wie der „Operation Loch“, während der nach einem im Haus verborgenen Schatz gesucht wird, oder der Geheimgesellschaft GVW (Gesellschaft zur Verbesserung der Welt) lockern die sonst oft bedrückenden Geschichten der Familienmitglieder oder Nachbarn auf, die aus politischen oder privaten Gründen (zum Beispiel wegen einer Mischehe) Widerstand leisten mussten. Mit viel Sprachwitz beleuchtet die Ich-Erzählerin, die Metaphern nicht verstehen kann und sie wortwörtlich deutet, den Alltag in einem unterdrückenden System, in dem sich Kinder historische Ereignisse wie die Deportation des Nachbarn aus mehreren Gesprächen zusammenreimen müssen (S. 99). Sie ist, wie sie mehrfach betont, nicht an der Geschichte interessiert, sondern an Geschichten von erwachsenen Familienmitgliedern und Freunden, die sie immer im Lichte ihrer Lektüren interpretiert. Dabei holt sie 1968 die Geschichte auch ein (S. 131, S. 148) und sie freut sich dank der vorübergehenden Lockerung über die „amerikanische Periode“ (S. 153) der Kindheit, in der sie sich auch die Fernsehserie Invaders und deren Folge The Innocents (man denke an den rumänischen Buchtitel) anschauen kann.

Die zahlreichen Exkurse zur Stadtgeschichte lassen unterschiedliche Narrative in den Roman einfließen, zugleich reflektiert sich der polyphone Text selbst auf einer Metaebene, als er etwa ausgehend von einem Geheimnis aus der Kindheit nach dem geheimen Leben eines Buches fragt (S. 89). An anderer Stelle wird ein Kindheitsgeheimnis erst nach Jahrzehnten und nur teilweise gelöst (S. 193). Der intertextuelle Horizont reicht im Einklang mit der kindlichen und dann erwachsenen Perspektive der Ich-Erzählerin, Studentin in Bukarest, von Wilhelm Hauff und Karl May bis zur Ilias, Meister Eckhart, Thomas Mann oder Sextil Pușcariu.

Der zunächst drohende „Weltuntergang“, das heißt der Abriss des Hauses, bleibt zwar aus, durch den „Tod“ einiger Nachbarhäuser kommt es jedoch zu grundlegenden Veränderungen, etwa zur baldigen Auswanderung deutscher Nachbarn. Die Auswirkungen solcher Ereignisse auf den kindlichen Alltag dämpfen die Situationskomik, die durch sprachliche Pointen wie etwa den stets wiederholten Ausdruck des genannten Onkels „Dieses Schwein von einem Ninel!“ (S. 47) erzeugt wird. Sobald man das letzte Wort von rechts nach links liest, ist der politische Hinweis entziffert.

Ioana Pârvulescus Roman bereichert den literarischen Erinnerungsort Kronstadt um eine neue, kindliche Perspektive: Die erzählten Begebenheiten führen in „eine andere Welt“, in der „Nicht nur die Geschichte, die das Alltagsleben der Menschen in den Hintergrund webt, eine andere [war], auch die Gegenstände, die ihre Handlungen bestimmen, waren anders“ (S. 9). In diesem Sinn kommt auch dem personifizierten Haus in der Strada Maiakowski ein besonderes Augenmerk zu. Die Menschen jedoch könnten auch im heutigen Kontext verstanden werden, so der Prolog, dessen subtile Ironie sich durch den Roman zieht.

Einem Teig ähnlich, mit dem die Stadt verglichen wird (S. 81), verfährt der Text mit literarischen Konstanten: Topoi wie die Zinne, die Glocken von Kronstadt, der Schwarze und der Weiße Turm, das Hotel Aro oder die Karpaten fügt er etwa vor dem Hintergrund einer abenteuerlichen Spionagegeschichte zu etwas Neuem zusammen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 255–257.