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Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: ein See | Rezension

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Ágnes Nemes Nagy: Mein Hirn: ein See. Gedichte. Aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász und Christian Filips. Berlin, Budapest und Schupfart: roughbooks 2022. 226 S.

Im roughbooks-Format, herausgegeben von Urs Engeler und Christian Filips – einer handlichen Reihe für Lyrik und experimentelle Prosa im quadratischen Understatementdesign, als Abonnement erhältlich –, erscheint als mittlerweile 56. Band eine Gedichtauswahl der bedeutenden ungarischen Lyrikerin Ágnes Nemes Nagy. Übersetzt und herausgegeben haben ihn Orsolya Kalász und Christian Filips unter dem Titel Mein Hirn: ein See, beide selbst profilierte Dichter:innen und eingespieltes Duo (wie zu lesen bei ihrer gelungenen Übersetzung der Liste freier Ideen von Attila József, 2017, ebenfalls roughbooks). Das durchgehend zweisprachig ausgestattete Buch gliedert sich in neun (formal unterschiedliche) Abschnitte aus dem umfangreichen Werk von Nemes Nagy (1922‒1991): Arboretum, Botanicum, Bestiarium, Aquarium, Atmosphärenkunde, Anorganicum, Geometricum, Monster, Gott und andere Posthumanoide sowie daran anschließend das Nachwort Allseits Augen von Christian Filips. In letzterem ist unter anderem zu lesen, da „es geradezu eine Kunst ist, im Ungarischen nicht zu reimen“, es mit deutscher Reimarmut jedoch „bei dieser Dichterin zweifelhaft wäre, neue Bedeutungen aus den Reimstrukturen vorgehen zu lassen“, sich Kalász und Filips „für einen frei ungebundenen Stil entschieden [haben], der mal dem Endreim nachgeht, mal auf eine vokalische Entsprechung zielt“ (S. 218). Außerdem gab es bereits frühere Übersetzungen von Franz Fühmann der Gedichte von Nemes Nagy, die wesentlich bemühter versuchten, deutsche Äquivalenzen dieser typisch ungarischen Versbauweise aufzuspüren. Vorliegende frische Annäherungen an Mein Hirn: ein See sind mithin zeitgenössische Nachdichtungen, denen jeweilig situativ getroffene Entscheidungen vorausgehen, wie unter anderem durch den Miteinbezug von mehreren Übersetzungsvarianten für ein Gedicht oder von „Gastübersetzungen“, doch dazu später.

Beim ersten Lesen fällt Ágnes Nemes Nagys Vorliebe für adjektivische Komposita ins Auge, wie überhaupt ihre Gedichte, die unterschiedliche Längenmaße aufweisen, oft gespickt sind mit Adjektiven: „kalkstill“ und „nachtblindweiß“ (S. 21) oder die „zerknackend, verborkende Zeit“ (S. 37), „weißwimprig“ (S. 77), „holderweiß“ (S. 117) oder „vogelgleich“ (S. 201). Nemes Nagy verdichtet Eindrücke und Sichtweisen auf Tier- und Pflanzenwelt, die man heute vielleicht mit dem etwas modischen Terminus Nature-writing umschreiben würde, doch Nemes Nagy geht es tatsächlich weniger um die Beschreibung als um die Fühlung und Nachempfindung der Natur durch das Gedicht, eine Sicht-/Sprachweise, die sich explizit der herkömmlich-menschlichen Kausalität entzieht, um sich hinzuwenden, anzugleichen, vielleicht auch einszuwerden mit jener Natur wie zum Beispiel in Aufblühende Kastanie (S. 24f), ein Gedicht in Verssilhouette eines Baums. Das Original ist als handschriftliches Wortkunstwerk mit abgebildet, eine fast süß-sympathische Abkehr von visueller Textkonvention. Exemplarisch für die Texte aus Arboretum, sinnlich-sensuellen Gängen durch Wald und dessen spezielles Klima, mag [Lärche, Farn, Mücke] (S. 17) stehen: „Lärche, Farn, Mücke. / Ein Baum knackt, summt vor Hitze. / Durch den harzigen, halb-borkenlosen / Stamm, gewaltig, schießt jetzt / ein Steinzeit-Telegramm. / Vielgelenkig die Säule, /die ich bin, stürzte hin.“

Nemes Nagys behutsam-respektvolle Haltung der Umwelt und ihren Bewohnern gegenüber zeigt sich auch in Blätter-Stiele (S. 27), wenn das lyrische Ich etwa „sich sehr feierlich“ nach einem Blatt bückt. Als zwei zentrale Gedichte nicht nur des Arboretum-Abschnitts lesen sich Bäume (S. 39) und das darauf folgende Man lerne (S. 41), die wie Varianten voneinander wirken. „Man lerne, was man liebt“ und „man lerne auch die Taten / der Bäume, ungesagt“, heißt es darin – ein Bekenntnis der Dichterin zu baumdominierter Naturdomäne.

Nicht selten verfällt Nemes Nagy trotz ihrer Klarheit in eine beinahe kinderliedhafte Sprachhandhabung wie in Eisenbahn (S. 139) oder Vogel (S. 75): „Da hebt mein Bewusstsein an, / ruckelt wie die Eisenbahn. / Einer Elefantenherde gleich / dröhnt mir der Tunnel voran“ beziehungsweise: „Ins Ohr schlägt immerzu / sein böses Vogelherz. / Doch flög es mir davon, / ich fiele bodenwärts.“ Bei beiden Gedichten lässt das Übersetzer:innenduo Kalász/Filips die angesprochene Entscheidung Pro-Reim jeweils zu. Auch in Blumenlied (S. 71) beispielsweise wird geradezu ostentativ gereimt: „[…] Land, […] Grabenrand, […] stand, […] fand, […] Land, […] stand, […] Felgenrand, […] stand“ und so fort., desgleichen in Demut (S. 137).

Eine andere Entscheidung, eben jener Miteinbezug von Gastübersetzer:innen, kommt beim kurzen, haikuartig konzentrierten Gedicht Ugyanaz (S. 44) zum Zug, das letzte des Arboretum-Abschnitts, das in gleich 24 Varianten übersetzt wurde. Diese geben sich im Verlauf immer verspielter, ändern das aufgerufene Vokabular (eigentlich ein vermeintlich einfaches Gedicht, das Tannen und Telegrafenmasten miteinander engführt) in immer weiter zurückliegende Zeiten (auch Franz Fühmanns frühere Übertragung ist darunter), und beinahe parodistisch anmutende historisierende Varianten in Richtung Wanderers Nachtlied kommen zum Zug („Warte nur, Fichte, balde / morschst und morst auch du“, S. 59). Die Gastübertragungen stammen unter anderem von Christina Kunze, Eva Zador, Felix Schiller und sind im Rahmen eines gemeinsamen Seminars entstanden.

Wie der Band voranschreitet, tauchen andere Atmosphären auf: ländlich verregnete oder staubige Blicke aus Fensterscheiben, die an die Filme von Béla Tarr erinnern, wie in Wappen (S. 81) der Blick auf den „Bauern-Pelikan“, den Storch nämlich, Symbol eines noch vorindustriellen Versuchs von Zusammenleben: „der ausgezehrte Bauern-Pelikan / Regen tropfte ihm aufs Haupt // Grau fiel der Regen / Der Regen fiel schwarz.“ Beschreibungen von Geografien, Geologien wie den „flüssigen Muskeln eines Geysir“ (S. 93) treffen auf menschgemachte Interventionen und postzivilisatorische Folgen – verpackt in zum Teil bizarren Bildern wie der „rückwärts gekehrte Fleischwolf“ (S. 143). In den späteren Gedichten, die ernster und formfreier werden, lenkt Nemes Nagy in prophetischer Weise die Aufmerksamkeit. Erinnerungen der Erde (S. 161) fühlt sprachlich den Wandlungen (Klima, Artenschwund) vor, die heutzutage längst die Welt heimsuchen. In letzterem Gedicht beginnt die Historie mit noch musisch-musikalischen Blumen über „einem ziemlich zusammengedrängt[en]“ Erdmantel, die „sich versuchen […] an Viertelnoten“, „dann stimmen alle ein“. In Vier Vierecke (S. 150) wird die menschliche Bauten-Geometrie (Fenster, Beton) der natürlichen gegenüberstellt, fast wie eine Hand im Kartenspiel, der man über die Schulter guckt nach Trümpfen.

Das Monster (S. 179), ein beeindruckendes Gedicht, stiftet mit „Mein Hirn: ein See. Nützlich und ernst“ den Titel der Sammlung. In seinen fünf Strophen ist fast alles, was Ágnes Nemes Nagys Haltung und Sprachbehandlung auszeichnet, abzulesen. Es schließt pessimistisch mit: „ein Hicksen, ein Wälzen, Verröcheln, / am eigenen, steigenden Schlamm“. Noch deutlicher, noch expliziter wird die kritische Position der Dichterin wenige Seiten später in Über Gott / Unsere schlimmste Mangelerscheinung (S. 203), wenn es darin heißt: „Herr, Du musst einsehen, so geht das nicht. So geht Schöpfung nicht […] Hast Du überhaupt ein Oben? Hast Du ein Über Dir?“ Dennoch gibt es bei ihr auch einen Optimismus der Wahl, der in Gedichten wie Verteidige es (S. 209) vorgestellt wird, einem Zweck, einer Aufgabe zugetan zu sein jenseits jeden Zynismus: „Verteidige es, wenn du kannst, sag: das war’s wert, / das war es wert, und gesteh, dass es gut war / und wert war jeden noch so steilen Pfad.“

Die Vereinigung der gegenläufigen Anteilnahmen in ihrer Stimme, das heißt sowohl Pessimismus, Desillusion, das präzise Schreiben des Vorgefundenen, seine dichterische Verwertung ins Offene mit viel Beigeschmack gelingt Ágnes Nemes Nagy wohl am besten in einem weiteren späten Schlüsselgedicht mit dem Titel [Eine faserige Zellophan-Sonne im All] (S. 207) – die eckigen Klammertitel sind Herausgeber:innenentscheidung im Buch für an sich titellose Gedichte –, einer gerade in seiner beiläufigen Kürze phänomenalen und zeitungebundenen Poesie: „Eine faserige Zellophan-Sonne im All / Ein Plakat weht durch die Stille nach dem Sein / Dümmlich stürzte etwas Grünes ein / Lila-rote Beine ragen aus dem Eis“.

Mein Hirn: ein See ist eine wichtige Veröffentlichung in vieler Hinsicht. Sie schließt eine weitere Lücke bedeutender osteuropäischer Lyrik im deutschsprachigen Übertragungsraum. Beziehungsweise weist sie einmal mehr auf noch zu Entdeckendes und Ausstehendes hin. Gleichzeitig weist sie inhaltlich nach, dass künstlerische Positionen, insbesondere sprachkünstlerische Positionen, ernst zu nehmen sind als Sinnesorgane der Gesellschaft, die fortlaufend Tendenzen, hier: Klimawandel, Umweltzerstörung, Artenschwinden und so fort, wesentlich früher wahrnehmen oder wahrgenommen haben, als politische Entscheidungsträger oder die Gesellschaft selbst es wahrhaben will. Ágnes Nemes Nagy kreiste von Anfang an um Themen, deren Relevanz erst langsam erkannt wird. Sie hat dafür eine (poetische) Sprache gefunden.

Jonis Hartmann

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 243–246.

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