In der Reihe von Texten zu den jüngsten und aktuellen Europäischen Kulturhauptstädten wird nun ein Bindeglied zwischen Rijeka (it., ung. Fiume) und Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár) vorgestellt, das heute in den beiden Städten eher wenig, wenn nicht völlig unbekannt ist. Es geht um die ungarische Zeitungsredakteurin, Publizistin, Schriftstellerin und feministische Pionierin Emília Kánya (1828–1905).
Kánya war eine Frau mit einem Lebenslauf und einer Karriere, die für ihre Zeit ungewöhnlich waren, eine Pionierin auf mehreren Gebieten. Heute ist sie vor allem in Ungarn bekannt und ist Gegenstand von besonderem Interesse für die historische Erforschung von Frauen sowie für die Feminismusforschung auf internationaler Ebene. Kányas Lebenserinnerungen, die sie für ihre Familie niederschrieb, wurden 1998 in Budapest veröffentlicht.1Emília Kánya: Réges-régi időkről: egy 19. századi irónő emlékiratai [Über längst vergangene Zeiten. Die Memoiren einer Schriftstellerin aus dem 19. Jahrhundert]. Hg. von Anna Fábri. Budapest 1998.
Dieser Beitrag stellt ihre Lebensstationen in Temeswar und Rijeka sowie ihre mit diesen Orten verbundenen publizistischen Tätigkeiten in den Mittelpunkt.
Kányas Kindheit in Pest
Emília Kánya wurde am 10. November 1828 als älteste Tochter des evangelischen Gymnasiallehrers und späteren Gymnasialdirektors Pál Kánya/Kanya (1794–1876) in Pest geboren. Sie wuchs im Gebäudekomplex des evangelisch-lutherischen Gymnasiums in unmittelbarer Nähe der evangelisch-lutherischen Kirche – am heutigen Deák tér, im Herzen des Stadtzentrums – mit ihren Eltern und Geschwistern auf.
Kánya verbrachte ihre Kindheit in einer Stadt im Umbruch, gekennzeichnet von Wachstum und Reform. Als Zehnjährige erlebte sie 1838 das verheerende Hochwasser in Pest, als die Donau so hoch anstieg, dass sie fast bis vor die Haustür reichte und die Familie zahlreiche Menschen vorübergehend aufnehmen musste, deren Häuser in anderen Stadtteilen unter Wasser standen. Ebenso konnte sie den Bau der Kettenbrücke aus unmittelbarer Nähe verfolgen – sie beschreibt ihren Besuch auf der Baustelle mit ihrem Vater – und war Zeugin der Eröffnung des Nationaltheaters im Jahr 1837.
Die Familie verstand sich als ungarisch, war aber stets in einem mehrsprachigen Milieu unterwegs. Der Vater war unter anderem Dienstträger in der deutschsprachigen evangelisch-lutherischen Gemeinde, und Emília sprach fließend Ungarisch und Deutsch, lernte Englisch und Französisch. Ihrer gesellschaftlichen Stellung und den damaligen Gewohnheiten entsprechend war der Lesestoff ihrer Jugendjahre überwiegend in ungarischer, deutscher und französischer Sprache. In ihren Memoiren bezeichnet sie sich und ihre Familie konsequent als patriotisch ungarisch, mit gleichgesinnten Menschen in ihrer Umgebung. Nicht nur das Lesen bereitete der jungen Emília große Freude – sie spielte auch leidenschaftlich Klavier und nahm jahrelang Unterricht.
Die Kányas bewegten sich nicht nur in bürgerlichen Kreisen, sondern hatten – zum Teil dank der Stellung des Vaters, zum Teil durch familiäre Verbindungen – ein enges Verhältnis zu zahlreichen Vertretern des Großbürgertums und der Aristokratie in ihrem Umfeld. Die Zeit in Pest wurde regelmäßig und vor allem im Sommer durch längere Aufenthalte in den Herkunftsregionen der Eltern unterbrochen, und durch diese Reisen kam Emília in Kontakt – und schloss sogar Freundschaften – mit Mitgliedern der Adelsfamilien Zichy, Kendeffy und Beleznay.
Vor allem durch das breite Netzwerk ihres Vaters, der auch Lehrer des Sohnes von Erzherzog Joseph, Palatin von Ungarn (1776–1847), war, sowie durch familiäre Bekanntschaften kam sie in Kontakt mit zahlreichen Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Kultur. Ihre Erinnerungen – auch aus ihren Jugendjahren – lassen sich wie ein Who is Who der Reformzeit Ungarns lesen. Dabei schildert sie ihre – nicht immer schmeichelnden – Eindrücke vom aufstrebenden Dichtertalent Sándor Petőfi (1823–1849; »mit krausem Haar, gelblicher Haut, halbherzigen Bewegungen, schlampiger Kleidung«2Kánya: Réges-régi időkről, S. 63: »[…] borzas, sárgás bőrű, félszeg mozdulatú, hanyag öltözetű«.), der später ein Gedicht mit dem Titel A virágok [Die Blumen] für sie schrieb, oder vom international bejubelten Klaviergenie Franz Liszt (1811–1886; »Manchmal entdeckte ich etwas Unechtes in seinem Spiel, zu viel Getue, er hat mich geblendet, aber meine Seele nicht in höhere Regionen geführt.«3Kánya: Réges-régi időkről, S. 154: »Olykor valami nem igazit fedeztem fel játékában, túlságos pózolást, elkápráztatott, de nem ragadta el a lelkemet, magasabb régiókba.«). Den Maler Miklós Barabás (1810–1898), der Emília auch porträtiert hatte, oder den mit ihr befreundeten Lajos Tavasi/Tavassy (1814–1877; bis 1846 Teichengräber), einen bekannten Pädagogen und Direktor des evangelisch-lutherischen Gymnasiums in Iglau (tsch. Jihlava), bedachte sie mit deutlich freundlicheren und lobenden Passagen.
Doch die mit jugendlichen Träumen und Freude erfüllten Jahre nahmen ein jähes Ende. Kurz nach dem offiziellen Abschluss ihrer Ausbildung wurde Emília 1847, mit 19 Jahren, durch ihre Mutter unter Druck gesetzt, den Heiratsantrag des aus Temeswar stammenden Dr. Friedrich/Frigyes Feldinger (1819–1903; ab 1861 Földényi), des Sohnes eines erfolgreichen Kaufmannes, anzunehmen. Von ihren geheim gehaltenen romantischen Gefühlen für ihren guten Freund Albert Pákh (1823–1867) musste sie sich für immer verabschieden.
Die Jahre in Temeswar
In Kányas Erinnerungen scheint bereits ihre abenteuerliche Ankunft in Temeswar als Omen für die bevorstehende düstere Zeit zu stehen: Als sie mit ihrem neuen Ehemann und ihrem Schwiegervater an einem Septembertag, mitten in der Nacht, ankam, waren die Stadttore bereits geschlossen, und sie wurden trotz wiederholten Bittens nicht eingelassen. Sie mussten die Nacht außerhalb der Stadtmauer verbringen und konnten erst am nächsten Tag in die Stadt fahren.
Ihr erstes Kind Irén († 1892) wurde während eines kürzeren Aufenthaltes in Pest im Revolutionsjahr 1848 geboren. Trotz des eigenen Glücks fand Emília Kánya in Temeswar jedoch angespannte Verhältnisse in der Familie Feldinger vor, die sich im Verlauf der Zeit nur verschlechterten.
Nach dem Ausbruch der Revolution 1848 verließ die junge Familie Temeswar aus Angst vor Repressalien gegen Feldinger, der sich durch seine Publizistik wie auch durch seine Vertonung von Petőfis patriotisch-revolutionärem Gedicht Nemzeti dal [Nationallied]4Nemzeti dal Petőfy Sándortól. Zongorától kisért énekhangra alkalmazá és a’ költőnek mély tisztelet jeléül ajánlá Feldinger Frigyes [Nationallied von Sándor Petőfy. Durch Frigyes Feldinger für eine Gesangsstimme mit Klavierbegleitung bearbeitet und dem Dichter als Zeichen tiefer Wertschätzung gewidmet]. Temesvár s.d. [wahrscheinlich 1848]. unverkennbar mit der ungarischen Sache identifiziert hatte. Sie irrten ziellos durch Ungarn, in dem Versuch, den Kämpfen und den Soldaten aus dem Weg zu gehen – was ihnen mal mehr, mal weniger gelang. Zuflucht fanden sie bei den verschiedensten Menschen und unter sehr diversen Umständen. Von einem ihrer Gastgeber, dem späteren evangelisch-lutherischen Bischof Sámuel Sárkány (1823–1911), der während Feldingers Studium dessen Vorleser gewesen war, zeigte sich Kánya nicht besonders begeistert: Sie bezeichnete ihn und seine Frau bei ihrer zweiten Begegnung als »die alten Nörgler, die weder ein kaltes noch ein hitziges Temperament haben«.5Kánya: Réges-régi időkről, S. 111: »Sárkányékat is a régi fanyaroknak, se hideg se meleg kedéllyel [találtuk]«.
Nach den Revolutionsjahren nach Temeswar zurückgekehrt, versuchten sich Emília und ihr Ehemann als Redakteure zu etablieren. Feldinger, der Jura studiert und den Beruf des Rechtsanwaltes einige Jahre ausgeübt hatte, gründete die satirische deutschsprachige Zeitschrift Euphrosine. Erheiterungsblätter für Kunst, Literatur und gemeinnützige Unterhaltung, die 1851 einige Monate lang erschien.6Das IKGS besitzt Mikrofilme der Zeitung. Dies war ein gemeinsames Unternehmen mit seiner Ehefrau, die ihm nicht nur bei den redaktionellen Tätigkeiten zur Seite stand, sondern auf deren Hilfe er – aufgrund seines sehr schlechten Sehvermögens – auch in anderen Bereichen des Alltagslebens angewiesen war. Zudem schrieb sie – nach eigener Angabe – auch einige der Texte, die in der Zeitschrift erschienen. Euphrosine publizierte Petőfis erste Biografie, wurde jedoch bereits im dritten Quartal aufgrund ihrer patriotischen Ausrichtung durch die Regierung eingestellt.
In Temeswar fühlte sich Kánya – nach eigenen Angaben – nicht glücklich: Sie war weit entfernt von ihrer Familie, ihrem Freundeskreis, ihrer Sprache, in einem überwiegend deutschsprachigen kleinstädtischen Umfeld. Feldinger schrieb ihr Gedichte auf Deutsch, und das Ehepaar pflegte Kontakte unter anderen mit der Familie Hofmann, deren männliche Mitglieder Verwalter des Hammerwerks in Ruskberg (rum. Rusca Montană, ung. Ruszkabánya) waren, und mit der Familie Maderspach, dessen bekanntester Vertreter, der Ingenieur Károly (1791–1849), Suizid beging.
In dieser Zeit entdeckte Kánya die Untreue und Spielsucht ihres Mannes, was für Spannungen und Konflikte in der jungen Familie sorgte. Um das Familienleben zu retten und neue Perspektiven zu öffnen, entschied sich das Ehepaar, sein Glück in Emílias Heimat zu versuchen und zog 1852 erneut nach Pest.
Wieder in Pest
In Pest wurden dem Ehepaar noch weitere Kinder geboren, aber Feldingers Affären und Schulden führten die Ehe in eine tiefe Krise. Kánya reichte 1857 die Scheidung ein, die allerdings erst 1860 rechtskräftig wurde.
In der Stadt erlebte Kánya während der Bach-Ära politische Unterdrückung sowie zahlreiche tragische Schicksale in der eigenen Familie und im Freundeskreis. Nichtdestotrotz begann sie ihre Karriere als Publizistin. Die ersten Texte in den 1850er-Jahren veröffentlichte sie noch anonym; erst ab 1857 verwendete sie das Pseudonym »Emilia/Emília«.
Auch während der Jahre in Pest brach Kánya nicht vollständig mit Temeswar: Auf die Bitte des Gründungsredakteurs Andreas/Endre Viktor Flatt (1817–1885) schrieb sie in der Temesvarer Zeitung – anonym – die mehrmals wöchentlich erscheinende Kolumne Briefe aus Pest ab Oktober 1852 und während des Jahres 1853.7Von den Beständen im Besitz des IKGS wurden die Jahrgänge 1852–1919 durch das Digitale Forum Mittel- und Osteuropa (DiFMOE) digitalisiert und sind abrufbar unter https://www.difmoe.eu/periodical/ uuid:e6ad6d7d-6284-46fa-8bac-3013ace032ca, 8.9.2023. Das Einkommen aus dieser Tätigkeit war ein willkommener Zusatzverdienst in diesen finanziell schwierigen Jahren, als sie sich in Pest mit ihrer wachsenden Familie neu zu etablieren versuchte.
Nach zahlreichen Veröffentlichungen in einem zunehmend größeren Kreis von Zeitungen und Zeitschriften kam der Durchbruch im Jahr 1860, als Kánya die belletristische Modezeitschrift Családi Kör [Familienkreis] gründete, deren Chefredakteurin, Herausgeberin und Hauptautorin sie war. Die Initiative stammte von ihrem Freund Albert Pákh, der selbst als Schriftsteller und Journalist tätig war und mit dem sie lebenslang den Kontakt hielt. Auf ihrem Höhepunkt hatte die Zeitschrift Családi Kör mehrere Tausend Abonnentinnen, und die Crème de la Crème der ungarischen Literatur zählte zu ihren Mitarbeitern, darunter János Arany (1817–1882), Mihály Tompa (1817–1868), Mór Jókai (1825–1904), später auch Kálmán Mikszáth (1847–1910). Kánya wurde landesweit bekannt, und ihr Bekanntenkreis wuchs dementsprechend, dazu gehörten auch der Komponist Robert Volkmann (1815–1883) und der Wiener Komponist und Musikkritiker Leopold Zellner (1823–1894). Eine enge Freundschaft verband sie mit dem Politiker Bertalan Szemere (1812–1869) und seiner Familie. Auch karitativ war Kánya gerne tätig: Mit ihrer Hilfe wurden das nationale Waisenhaus für Mädchen und die Ausbildungsstätte für Frauen gegründet.
Die wachsende Konkurrenz und die rückläufigen Abonnentenzahlen führten allerdings dazu, dass Kánya die Zeitschrift im Jahr 1880 einstellen musste. Ihre publizistischen Tätigkeiten hatten sich jedoch nicht auf Családi Kör beschränkt, da sie zwischen 1861 und 1863 auch das Jahrbuch der Ungarischen Frauen [Magyar Nők Évkönyve] und weitere Serienpublikationen für eine weibliche Leserschaft herausgab, außerdem Romane sowie Erzählungen veröffentlichte.
1861 heiratete Kánya den Schriftsteller und Publizisten Mór Szegfi (1825–1896), der in Prag (tsch. Praha) und Berlin studiert und später an der Revolution teilgenommen hatte, dann aus seinem Exil nach Pest zurückgekehrt war. Szegfi schrieb ebenfalls für Családi Kör, nach dem Ausgleich 1867 erhielt er eine Stelle im Handelsministerium und arbeitete später als Lehrer in Leutschau (sk. Levoča, ung. Lőcse) und Kaschau (sk. Košice, ung. Kassa). Szegfi veröffentlichte mehrere Romane und Erzählungen. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder hervor, von denen eines schon als Kind starb.
Die Jahre in Rijeka
Am 10. Dezember 1884 zog Emília Kánya zusammen mit ihrer Tochter, Emília Szegfi, genannt Emmi (* 1862), nach Rijeka und lebte dort bis zu ihrem Tod am 29. Dezember 1905. Ausschlaggebend für den Umzug – nach einigen Jahren in Eipelschlag (sk. Šahy, ung. Ipolyság) mit Emmi – war die Einladung ihres Schwiegersohnes, Lajos Nyirák (* 1845), gewesen. Nyirák war mit Kányas Tochter Matild (* 1852) aus erster Ehe verheiratet und arbeitete 1883–1893 als Leiter der ungarischen königlichen Marinebehörden in Rijeka. Er war Mitarbeiter bei Családi Kör gewesen und publizistisch auch für weitere Periodika wie Pesti Napló [Pester Journal] und Egyetértés [Einverständnis] tätig.
Emílias Tochter Emmi erhielt in der Hafenstadt – auf Vermittlung der mit der Familie befreundeten Pädagogin und Direktorin der Budapester Lehrerinnenbildungsanstalt, Janka Zirzen (1825–1904) – eine Anstellung als Lehrerin an der Staatlichen Grund- und Oberschule für Mädchen. Eine angenehme Nebenwirkung des Umzugs war für Kánya gewiss auch die Tatsache, dass sie ihre zweite Ehe, die da bereits zerbrochen war, vergessen konnte.
Außer ihrer Tochter Matild lebte auch Emílias Sohn aus zweiter Ehe, László Szegfy (* 1867), in Rijeka. Während des Jahres 1884 wohnte er bei Matild und Nyirák und besuchte die achte Klasse des Gymnasiums. Eine weitere Tochter aus Kányas zweiter Ehe, Ilona, genannt Ilonka (* 1866), kam einige Jahre später nach Rijeka und erhielt eine Anstellung als Lehrerin an der gleichen Schule wie ihre Schwester Emmi.
In Rijeka umgab sich Kánya ausschließlich mit Ungarn – sie gibt an, nie Italienisch gelernt zu haben –, und auch hier bestand ihr Freundeskreis aus Vertretern der politischen und intellektuellen Elite. Bei der Etablierung ihres persönlichen Netzwerkes halfen ihr zweifelsohne die wöchentlichen Zusammenkünfte ungarischer Intellektueller in der Stadt, die ihr Schwiegersohn Nyirák in seiner Wohnung veranstaltete, sowie die ungarischsprachige Lehrerschaft im Umfeld ihrer Töchter.
Zu Kányas engsten Freunden in Rijeka gehörten Aladár Fest (1855–1943) und seine Frau, Ilma Dunay. Das Ehepaar lebte seit 1881 in der Stadt, wo Fest als Direktor des ungarischen königlichen Hauptgymnasiums tätig war. Er veröffentlichte zudem zahlreiche Werke zur Geschichte und Wirtschaft Rijekas auf Ungarisch und Italienisch. Der aus Erlau (ung. Eger) stammende Sámuel Szabó, ein weiterer Freund Kányas, war Geschichtslehrer in der Stadt, erst am königlichen Hauptgymnasium, ab 1900 dann an der k. u. k. Marineakademie. Außerdem erwähnt sie in ihren Memoiren auch Albert Frankfurter, einen der Direktoren der Ungarischen Königlichen Seeschifffahrtsgesellschaft »Adria« und späteren Generaldirektor von Triester Lloyd.
Zu den weiteren Personen, über die Kánya schreibt, gehörten Mitglieder der Familien Russo und Janosits. Elie Russo war Co-Direktor der Reisschäl- und Reisstärkefabrik, und József Berzsenyi-Janosits war als Ingenieur bei der ungarischen Schifffahrtsbehörde beschäftigt.
Unter den prominenten Besuchern Kányas in Rijeka befanden sich Károly Szemerjai Szász (1829–1905), evangelisch-reformierter Bischof, Dichter, Dramaturg und Übersetzer, sowie Baron Balázs Lengyelfalvi Orbán (1829–1890), Schriftsteller, Ethnograf, Fotograf und Abgeordneter im ungarischen Parlament.
Zu Besuch nach Rijeka kamen aber auch zahlreiche Mitglieder der Familie, darunter Kányas Schwester, Kinder und Enkelkinder. Obwohl Matild und ihre Familie im Jahr 1888 nach Pest zogen, wo Nyirák eine neue Anstellung erhalten hatte, blieben Emmi, Ilonka und László dauerhaft in Rijeka.8Emmi unterrichtete bis 1918 an der Mädchenschule. Ilonkas Name lässt sich in den Jahresberichten derselben Schule bis mindestens 1906 nachweisen. László heiratete 1895 Marie Kristinus aus Teschen in der evangelischen Kirchengemeinde in Rijeka und wohnte mindestens bis 1906 nachweislich in der Stadt. Letzterer war nach dem Abschluss seines Jurastudiums in Budapest nach Rijeka zurückgekehrt und arbeitete bei der von Viktor Garády/Gauss (1857–1932)9Garády, der zugleich als Schriftsteller und als Biologe arbeitete, wurde in Rijeka als Sohn einer alten italienischen Patrizierfamilie geboren. Nach seinem Studium in Budapest unterrichtete er ab 1908 an der k. u. k. Marineakademie in Rijeka. Seine ersten Werke schrieb er auf Italienisch, später wechselte er zur ungarischen Sprache. Mehr als 20 Jahre lang leitete er die Biologische Anstalt in Rijeka. im Jahr 1903 gegründeten Wochenzeitung Fiumei szemle [Fiumaner Rundschau], zu deren Chefredakteur er im Februar 1904 ernannt wurde. Ab jenem Jahr trug die Zeitung – die traditionelle Mehrsprachigkeit der Stadt reflektierend – den italienischen Untertitel Rivista di Fiume und veröffentlichte regelmäßig auch Texte auf Italienisch.
Wie zu Temeswar hatte Kánya auch zu Rijeka ein ambivalentes Verhältnis, wenngleich aus anderen Gründen. Hier fühlte sie sich nie ganz zu Hause, besonders bedauerte sie den empfundenen Mangel an Solidarität der Einwohner mit dem ungarischen Staat und mit den in Rijeka lebenden Ungarn: »Hier werden wir [Ungarn] beobachtend, kalt, herzlos angeschaut, wir sind hier immer noch Fremde, aus denen man Nutzen zieht, denen man aber keinerlei Liebe entgegenbringt. […] Und dieser kalte Windhauch durchdringt auch das gesellschaftliche Leben.«10Kánya: Réges-régi időkről, S. 245: »Bennünket itt megfigyelő, hideg, szeretet nélküli szemmel néznek, mi még most is idegenek vagyunk itt, akikből hasznot húznak, de egy csepp szeretetet sem adnak. […] És ez a hideg szellő átjárja a társadalmi életet is.«
Mit der Niederschrift ihrer Memoiren begann sie im Jahr 1901, und ihre letzte publizistische Tätigkeit stellte ein 1905 in Budapest veröffentlichter Band zur Erinnerung an Kronprinz Rudolf von Österreich-Ungarn (1858–1889) dar. Ihre Memoiren blieben unvollendet.
Kánya starb in Rijeka am 29. Dezember 1905 in der Wohnung ihres Sohnes László. Am nächsten Tag wurde sie beerdigt, und die dortigen ungarischsprachigen Zeitungen A Tengerpart [Die Küste] sowie Fiumei szemle veröffentlichten einen Nachruf.
Fazit
Temeswar und Rijeka umrahmten Kányas produktivsten Jahre: Temeswar stand am Anfang ihrer Karriere, Rijeka am Ende. In Temeswar probierte sie sich zum ersten Mal in der Welt der Publizistik aus, während sie in Rijeka nach einem erfolgreichen beruflichen Weg überwiegend ihren Ruhestand genoss.
Emília Kánya war die erste weibliche Zeitungs- und Zeitschriftenredakteurin im Habsburgerreich und wird heute häufig als die erste ungarische Feministin bezeichnet. Dabei versuchte sie in ihren Memoiren immer wieder, ihre Verdienste als Ehefrau und Mutter zu betonen. Aus einem mehrsprachigen Milieu kommend, schrieb und edierte sie Texte in mehreren Sprachen. In ihren letzten Lebensjahren schrieb sie jedoch überwiegend auf Ungarisch – doch ist die Leichtigkeit, mit der sie zwischen den verschiedenen Sprachen, Kulturen und Literaturen wechseln konnte, nicht zu übersehen.
Die beiden hier im Fokus stehenden Städte umrahmten Kányas produktivsten Jahre: Temeswar stand am Anfang ihrer Karriere, Rijeka am Ende. In Temeswar probierte sie sich zum ersten Mal in der Welt der Publizistik aus, während sie in Rijeka nach einem erfolgreichen beruflichen Weg überwiegend ihren Ruhestand genoss.
In Temeswar, wo sie nur einige Jahre wohnte, tut man sich heute schwer, auf Kányas Spuren zu stoßen. Und obwohl sie ihre letzten 21 Lebensjahre in Rijeka verbrachte, bleibt Emília Kánya heute auch in dieser Stadt völlig unbekannt. Dies liegt höchstwahrscheinlich daran, dass sie – nach eigenen Angaben – nur am ungarischen Kulturleben der Stadt teilnahm und sich in ungarischen Kreisen bewegte. Auch ihre Familienmitglieder – ihre Töchter Matild, Emmi und Ilonka sowie ihr Sohn László –, die jahrelang in der Stadt wohnten und arbeiteten und der italienischen Sprache mächtig waren, scheinen keinen Teil der örtlichen Erinnerungskultur zu bilden.
In Ungarn dagegen hat sie ihre Spuren hinterlassen und ist Gegenstand mehrerer Studien.11Vgl. u. a. Petra Bozsoki: Egy női karrier elbeszélésének nehézségei. Kánya Emília emlékiratairól [Die Schwierigkeiten der Erzählung einer weiblichen Karriere. Zu den Memoiren von Emília Kánya]. In: Verso – irodalomtörténeti folyóirat [Verso – Zeitschrift für Literaturgeschichte] (2018) H. 1, S. 25–45. Ihr Nachlass wird zum Großteil im Evangelisch-Lutherischen Landesarchiv in Budapest aufbewahrt. Dieser Nachlass enthält allerdings keine nennenswerten Informationen zu ihren Aufenthalten in Temeswar und Rijeka.
Auch auf der internationalen Bühne hat Kánya Aufmerksamkeit erfahren und wird im Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms in Central, Eastern, and South Eastern Europe mit eigenem Eintrag geehrt.12Éva Bicskei: Kánya (Kanya), Emilia; Mrs Mór Szegfi (1830–1905). In: Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms. Central, Eastern, and South Eastern Europe, 19th and 20th centuries. Budapest 2006, S. 213–216.
Kányas Erinnerungen stellen eine wertvolle Quelle für die Rekonstruktion eines bewegten Lebens dar, auch wenn im Text eine starke Subjektivität erkennbar ist. Demnach vermeidet die Autorin ausgewählte brisante Themen wie ihre Scheidung und thematisiert sie entweder nur kurz oder überspringt sie vollständig.
Emília Kányas außergewöhnliches Leben hat mehrere Epochen überspannt, und es gibt kaum Vertreter des ungarischen und mitteleuropäischen (Klein- und Groß-) Bürgertums, die in ihren Memoiren nicht vorkommen. Allein aus diesem Grund wäre ihr Leben als Subjekt einer Studie in historischer Netzwerkforschung bestens geeignet – ein Wunsch, der zugleich auch ein Forschungsdesiderat für die Zukunft darstellt.
Angela Ilić
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 219–226.