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Barbi Marković: Die verschissene Zeit | Rezension

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Belgrad kann ganz furchtbar sein

Barbi Marković: Die verschissene Zeit. Roman. Salzburg, Wien: Residenz Verlag 2021. 229 S. + 68 S. Beiheft

Muss dieser Buchtitel wirklich sein? Wer den verstörend dystopischen Roman gelesen hat, versteht seine vulgär klingende Überschrift besser. Denn er spielt an einem Ort, den man lieber nicht besuchen möchte, und in einer Zeit, die man so lieber nicht erlebt haben will. Weil beides beschissen war. Im Titel steht nicht „be-“, sondern „ver-“ – ein kleiner, aber wichtiger Unterschied, denn anders als beim „be-“ ist beim „ver-“ ein Eigenanteil mit dabei. Die Protagonisten werden durch das „ver-“ zu mehr als zu bloßen Opfern einer sinnlosen und oft brutalen Geschichte. Sie gestalten sie auch mit. Wer ihren, nun ja, abgefuckten Straßenjargon nicht mag – der Romantitel klingt, verglichen mit der im Text geradezu obsessiv eingesetzten Jugend-Umgangssprache, eher harmlos –, der oder die sollte die Finger von diesem Buch lassen. Das gilt auch für Menschen, die auf Formulierungen wie „die awkwarde Atmosphäre“ (S. 164) oder „dann cashen wir ab“ (S. 178) allergisch reagieren. Barbi Marković schreibt nicht für ästhetisch anspruchsvolle Feingeister. Vom derben Slang und den ständigen Flüchen sollte man sich aber nicht wirklich abschrecken lassen. Eine literarische Höllentour im Rilke-Ton kann es nun einmal nicht geben.

Die wichtigsten Figuren des 1984/85, aber eigentlich Anfang 1995 einsetzenden Romans sind drei pubertierende Jugendliche – die Erzählerin Vanja, ihr Bruder Marko und Kasandra aus der Roma-Siedlung. Sie wachsen in den Betonburgen von Banovo brdo auf, die in den 1960er-Jahren für pensionierte Angehörige der jugoslawischen Armee errichtet worden waren und seitdem als „Teich voller Krokodile“ (S. 66) gelten. Titos Geist ist noch nicht ganz verschwunden. Dem Teufelskreis aus Armut, Verrohung, Gewalt, Inflation und Perspektivlosigkeit, in den ihr zerfallenes Land geraten ist, können diese jungen Menschen nirgendwo entkommen. Um sie herum gibt es meist verbitterte und gleichgültige ältere Menschen, aber auch gefährliche Street-Gangs, notorische Drogendealer wie die Bambalić-Brüder, brutale Computerspiel-Figuren, verwahrloste Straßenhunde und durchwegs kranke Katzen, eine verwelkte Balkan-Pop-Ikone und einen leicht verrückten Wissenschaftler, der an einer Zeitmaschine herumbastelt. „Diese kriegstraumatisierten Pensionistinnen und Pensionisten, ihre Söhne und Töchter und ihre Enkelinnen und Enkel sind eure Nachbar*innen. Es gibt zu wenig Raum in den Wohnungen, und mit jedem Neugeborenen, mit jeder aus Bosnien oder Kroatien geflüchteten Verwandten, jeder geschiedenen Tante und jedem verwahrlosten Opa müssen sich alle auf noch weniger Raum zusammenzwängen. Die Toiletten sind oft besetzt, alle Familienmitglieder hören die Festnetzgespräche der anderen mit, und in den Küchen ist es zu eng. Überall laufen Kakerlaken herum: die üblichen schwarzen und die braunen, die sogenannten Russen.“ (S. 12)

Erzählt wird die Geschichte einer verlorenen Generation von einer auktorialen Erzählerin, die oft kommentierend und wertend ins Romangeschehen eingreift: „Ein Applaus für euch in diesen schwierigen Kapiteln“ (S. 190). Natürlich schreibt die 1980 in Belgrad geborene, seit 2006 in Wien lebende Barbi Marković keinen realistischen Text, der das trostlose Milieu literarisch ausleuchtete – schon ihr Roman Ausgehen (2009) war alles andere als realistisch, und Superheldinnen (2016), das Buch, das sie in Österreich und Deutschland bekannt machte, war es erst recht nicht. Kein Realismus also. Vielmehr inszeniert Marković in ihrem ersten Buch, das sie allein und ausschließlich auf Deutsch verfasst hat, ein szenisch angelegtes, mit geschickt montierten Versatzstücken und Spotlights arbeitendes popkulturelles Sprachspiel, das vor allem ein Spiel mit der erzählten Zeit ist. Wobei der „Zeitsprung“ (S. 105) eine zentrale Rolle spielt. „Alles ist nur eine Frage der Chronologie“, lautet der letzte Satz des Romans (S. 229). 1993, 1996, 1999, 2001 – jedes Jahr ist anders, doch das Elend bleibt bestehen. „Hier, in eurer Zeit, in den Allneunzigern, gibt es für euch nichts zu holen …“ (S. 215). Denn, wie Kasandra einmal sagt: „Es GEHT tatsächlich NIEMANDEM UM UNS, ABER UNS, UNS GEHT ES EXTREM UM UNS!“ (S. 216) In diesem Roman allerdings geht es ausschließlich um Kasandra und ihre Clique.

Auch wenn es in Banovo brdo einen McDonald’s gibt, auch wenn Dresscodes, angesagte TV-Sendungen, die richtige Musik und schnelle Autos für die Teenies bisweilen wichtiger werden als Politik und Ideologien – sie entkommen dem Rassismus, speziell dem Anti-Ziganismus, natürlich nicht, ebenso wenig wie der allgegenwärtigen Gewalt. Als die Protagonisten unverhofft ins Kriegsjahr 1999 katapultiert werden, als die „Bombenflugzeuge“ (S. 38) den Himmel über Banovo brdo übernehmen und man sich über Rezepte für „Embargokuchen“ (S. 60) austauscht, fangen sie an zu begreifen, dass sie ihren Stadtteil aus den verheerenden 1990er-Jahren befreien müssen. „Inzwischen seid ihr euch alle einig, dass 1999 ein unerträgliches, grausames Jahr ist und dass es zum Kotzen ist, was mit euch passiert. Es ist nicht fair, oder? Und vor allem nicht angenehm“ (S. 112). Sie versuchen – Krimi und Kolportage lassen grüßen –, den Schlüssel zur Zeitschleife zu finden und ihre Geschichte ganz neu und anders zu leben und zu schreiben. Vorher müssen sie den Porsche eines mächtigen Kapos zweckentfremden und ein angeblich magisches Amulett finden. Wie das geschieht, wird nicht verraten. Nur so viel: Es bleibt spannend, bis zum Schluss.

Das das Romangeschehen immer stärker beherrschende Spiel mit der Zeit mag vielleicht kompliziert und sogar etwas abwegig erscheinen – aber es funktioniert. Im zusammen mit Thomas Brandstetter entwickelten, in einem ausführlichen „Beiheft“ näher erläuterten „Rollenspiel“ kann man weitreichende Alternativen zum Romangeschehen ausprobieren und die Geschichte in ganz andere Richtungen laufen lassen. Wer mitmacht und sich an die Spielregeln hält, kann, angeleitet von einer Spielleiterin, selbst eine Figur der Geschichte sein und „alles anders machen als im Roman“ (Beiheft S. 3). Ein Pop- und Trashroman als rasantes Gesellschaftsspiel – ein originelles und ungewöhnliches Angebot für alle, die sich intensiver mit dem Romanthema und seinem Drumherum beschäftigen möchten. Warum eigentlich nicht? Dem politisch und sozialkritisch grundierten Protest-Aufschrei einer ganzen Post-Jugo-Generation, als den man Die verschissene Zeit unbedingt auch begreifen muss, nimmt weder die ungewöhnliche Erzählweise der Autorin noch das Rollenspiel irgendetwas weg. Selbst wenn mittlerweile mehr als zwanzig Jahre vergangen sind – die tiefen Wunden heilen nicht zu, und die vernachlässigten Seelen bleiben verwahrlost. So leben sie hin. Immerhin haben sie überlebt. Wie weiter?

Klaus Hübner

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 246–248.

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