Jürgen van Buer, Josef Balazs (Hgg.): Der befestigte Glaube. Kirchenburgen in Siebenbürgen. Berlin: LOGOS-Verlag 2018. 320 S.
Von Lilia Antipow
Ein Fotograf ist immer ein Suchender und ein Wanderer. Der Fotograf Jürgen van Buer, bis 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik an der Humboldt-Universität Berlin, kam dreimal – 2014, 2015 und 2017 – in das ländliche Siebenbürgen. 260 seiner künstlerisch höchst beachtenswerten Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Kirchenburgen, die dabei entstanden, enthält der vorliegende Band, den er zusammen mit dem Autor und Ausstellungskurator Josef Balazs herausgegeben hat.
Das monumentale Werk setzt sich aus drei Abschnitten zusammen: „Nach-Spüren“, „Nach-Schauen“ und „Nach-Denken“. Der erste Teil „Nach-Spüren“ beginnt mit einem Beitrag von Josef Balazs, der einem vergessenen Kapitel aus der Vergangenheit Siebenbürgens, aus der Zeit vor der Entstehung der modernen Historiografie nachgeht: der mythischen Erzählung von historischen Zusammenhängen. Es ist die Legende vom Rattenfänger von Hameln mit ihrem „Transsilvania-Zusatz“ (S. 11), der die Abstammung der Siebenbürger Sachsen auf die Hamelner Kinder zurückführte. Im darauf folgenden Beitrag ordnet Konrad Gündisch die sächsischen Kirchenburgen in den Kontext ihrer Entstehungszeit ein und zeigt dabei, wie weit ihre Geschichte von der außenpolitischen Entwicklung Siebenbürgens, insbesondere von den Kriegen gegen die tatarischen Khanate und das Osmanische Reich, geprägt wurde. Den Hauptteil mit dem Titel „Nach-Schauen“ ergeben die Bilder, die in zwölf Episoden zusammengefasst sind, denen je ein Text von Jürgen van Buer vorangestellt ist. Im dritten und letzten Teil „Nach-Denken“ setzen sich Andreas Kohring, Thomas Düllo und van Buer aus kultur- und fotografietheoretischer Perspektive mit der Fotografie als visueller Konstruktion der Wirklichkeit und ihrer Objektivität auseinander. Ein sorgfältig erstelltes Register der Fotografien ergänzt den Band.
Van Buer und Balazs bieten mit ihrem Buchprojekt weder eine vollständige Geschichte der Kirchenburgen noch wollen sie kollektive Mythen, Gemeinschafts- und Geschichtskonzepte bedienen oder einen Beitrag zur Kunstgeschichte der Kirchenburgen leisten und schon gar nicht nostalgische Gefühle wecken. Stattdessen wagen sie einen Blick auf das architektonische Erbe der Siebenbürger Sachsen, der bewusst fragmentarisch bleiben und Episoden exemplarisch ins Auge fassen soll. Dabei wird erstmals der Versuch unternommen, über die Kirchenburgen in der Sprache der aktuellen Fotografie und der Historiografie, der Kunst- und der Fotogeschichte zu sprechen. Herausgekommen ist eine Diskursgeschichte, eine Dokumentation, die das Sprechen über die Kirchenburgen, die verschiedenen Erzähl- und Interpretationsweisen über sie zusammenführt, wobei sie die „subjektive“ Sicht des Fotografen mit der „objektiven“ Sicht des Historikers konfrontiert. Sowohl die Fotografien als auch die Begleittexte schärfen die Einsicht, dass die Kirchenburgen – wie die Geschichte der Siebenbürger Sachsen insgesamt – unterschiedlich beschrieben und präsentiert werden können. Darin liegt die besondere Faszination dieses Vorhabens, die sich aus dem Zusammenspiel von Distanz und Nähe zum historischen und ästhetischen Objekt ergibt und es gestattet, dessen Vielseitigkeit und Mehrdeutigkeit sichtbar zu machen. Um dabei einmal mehr zu demonstrieren: Jedes geschichtliche Erzählen und visuelles Zeigen bleibt fragil und fraglich.
Die die Bilder begleitenden Texte sind Teil des Diskurses. Sie bemühen sich, die Fotografien – mal auf eine narrativ-performative, mal auf eine fachhistorische Art – in ihren geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Kontext einzuordnen; werfen ihren eigenen Blick auf die Kirchenburgen und ihre Geschichte; und argumentieren zugleich gegen deren Indienstnahme in Vergangenheit und Gegenwart. So zeichnet Balazs nach, wie eine mythische Sage in Anbetracht der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft ihren historischen Erklärungswert verlor. Gündisch setzt sich mit dem Kirchenburg-Mythos als Teil einer heroischen Erinnerungskultur der Siebenbürger Sachsen auseinander und hält der geschichtlichen Mythenbildung entgegen: Was von den Kirchenburgen als schützende Festungen blieb, „wenn größere und organisierte osmanische Truppenverbände anrückten“ (S. 24), zeigt, dass sie seit Beginn des 18. Jahrhunderts jede Schutzfunktion verloren, jedoch als Denkmal und als ein „sichtbarstes ‚Symbol sächsischer Existenz‘ in Siebenbürgen“ (S. 24) die Zeit überdauerten.
Eine eigene Annäherungsweise an die Kirchenburgen findet man in den Aufnahmen von Jürgen van Buer, in erster Linie in seinen Architekturfotografien. Die Kirchenburgen interessieren ihn weniger als historische und kirchliche Objekte, sehr viel mehr als ästhetische Phänomene, die zum Gegenstand seiner fotografischen Artefakte werden. Van Buer ist kein Erzähler im herkömmlichen Sinne, dem es um die Vermittlung eines bestimmten Bildes der Realität, um ihre „objektive“ Abbildung geht. Seine Bilder schaffen eine eigene ästhetische Welt, unabhängig von der Wirklichkeit visualisieren sie lediglich und abstrahieren von ihr zugleich. Die Realität muss und will auf diesen Aufnahmen nicht wiedererkennbar sein. Auch eine „Botschaft“ soll durch sie nicht vermittelt werden: Der Betrachter allein soll entscheiden, was er auf dem Bild sieht, was er sehen will, welche Geschichte das Bild ihm „erzählt“ oder „erzählen“ soll. Dass die sinnproduzierende Leistung der Fotografie nur so gedacht werden kann, verdeutlichen van Buer selbst sowie Kohring und Düllo in ihren Beiträgen im dritten Teil des Bandes „Nach-Denken“. Sie sensibilisieren für das Verständnis dieser Fotografien als eines medialen Raums, in dem ihre Bedeutung aus der situationsabhängigen Betrachtung, aus dem Austausch zwischen dem Urheber und dem Rezipienten, dem Fotografen und dem Betrachter entsteht.
Dieser soll selbst entscheiden, wie er die Bilder sehen will: als naturalistisches Artefakt oder als ein abstraktes Werk. Lässt man sich auf den abstrakten Betrachtungscode ein, so werden die ästhetischen Objekte von ihren „realen“ Pendants abgelöst, wird das Bild zum Spiel seiner Einzelelemente, der Elemente der Burggeometrie. Dem betrachtenden Auge bleibt es verwehrt, zur Wirklichkeit „zurückzuwandern“. Vor allem van Buers Architekturfotografien – die wenigen Portraits sowie die Natur- und Landschaftsaufnahmen sind in dieser Hinsicht eine Ausnahme – sind abstrakte Bild-Konstruktionen. Abstrahiert wird von der Realität und jeglicher Gegenständlichkeit. Im Vordergrund steht das Bemühen um die Vollkommenheit der Form und ihre strikte Organisation. Die fast zwanghafte „Ordnung“, die „Dynamik der Perspektive“, die strenge Struktur der Kirchenburg – darauf kommt es bei diesen Fotografien an, wie auch die Herausgeber in ihrem Vorwort unterstreichen (S. 7). Van Buers Bilder wirken wie perfekte Arrangements, wozu die Leere und die Sterilität der Bildräume zusätzlich beitragen. Die vertikalen, horizontalen und schrägen Linien werden zum tragenden Element dieser abstrakten Konstruktionen.
Ein weiterer wichtiger Begriff ist der der „Grenze“. Den leeren Bildflächen werden durch Linien strenge Grenzen gesetzt. Die Objekte sind eingegrenzt und in ein Gefüge aus Linien und Flächen „eingezwängt“. Durch die Bildkomposition, durch ein Schattenspiel von scharfen Schwarz-Weiß-Kontrastierungen und gebrochene Linienführung entsteht eine monumentale Bildgeometrie. Die Dynamik der Linie richtet sich gegen die Statik und die gewaltige Wucht des archaischen Gesteins, verläuft sich in den verwinkelten Ecken dieser Kolossalobjekte und zerschellt an ihrer Unverrückbarkeit und manifesten Präsenz. Dieses vom aufnehmenden Auge bewusst oder zufällig erzeugte Zusammenspiel der Formen verleiht den Fotografien ihre hervorstechende Dramatik. Die gleiche Wirkung kann bereits das Material des Objekts durch die ihm eigene Ausdrucksstärke, durch seine Haptik erzeugen: altes Mauergestein, abbröckelnder Wandstuck, faulendes Holz – durch Groß- und Halbgroßaufnahmen werden sie an den Betrachter herangezoomt. Die Objekte auf den Bildern sind „entgegenständlicht“, ihrer materiellen Substanz beraubt, auf ein visuelles Zeichen reduziert. Es sind auch keine Objekte als Ganzes, sondern Teile, Fragmente, „Reste“, wie van Buer selbst sie nennt (S. 75), unter anderem auf Elemente der alten Ausstattung der Innenräume der Kirchenburgen, der traditionellen Stickereien, auf die Buchstaben alter Kirchenbücher verweisend. Selbst wenn ein „ganzes“ Objekt zu sehen ist, so ist seine Präsenz kein Selbstzweck, sondern es ist Teil eines formalen Arrangements. Dabei erscheint das ästhetische Objekt nicht in stilisierter Form, sondern bleibt dem realen Objekt letzten Endes doch verbunden.
Aufgrund der Entgegenständlichung der Objekte und ihres abstrakten Charakters erscheint die Welt der Fotografien von Jürgen van Buer, ob gewollt oder nicht, als eine Welt ohne Dramen, ohne Tragödien, aber auch ohne Lyrik. Visuelle Dynamik und Dramatik scheinen den Fotografen mehr zu interessieren als die Erzeugung von subtilen Stimmungen beim Betrachter. Mit seinen Kirchenburgen kann man sich nur rational auseinandersetzen: Der Fotograf bietet dem Betrachter keine Möglichkeit, sich in die Welt der Kirchenburgen „hineinzufühlen“.
Wenn man Bildern doch einen Narrationscharakter unterstellen, ihre Visualität ins Literarische überführen will, so erzählen sie dem Betrachter die Geschichte einer Abwesenheit. Traditionell bildeten die Kirchenburgen als sakrale Räume und die siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft ein Gesamtkunstwerk, meinte Josef Balazs in einem seiner früheren Texte. Heute befindet sich diese Gemeinschaft im Zustand der Auflösung, sie ist beinahe verschwunden. Doch die Kirchenburgen, ihre Reste und Spuren bleiben – sie werden zu visuellen Metonymien des einstigen Gesamtkunstwerks, die nicht zuletzt durch die Leere auf das einst Vorhandene verweisen, auf Menschen als Teile der religiösen Gemeinschaft, auf Rituale oder Objekte (vgl. S. 306). Das Erzählen über die Kirchenburgen ist dabei auch ein Erzählen über Siebenbürgen.