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Marko Dinić: Die guten Tage | Rezension

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Marko Dinić: Die guten Tage. Roman. Wien: Zsolnay Verlag 2019. 239 S.

Von Klaus Hübner

Das Serbien der 1990er-Jahre mag längst Geschichte sein. Tut aber immer noch weh. Der namenlose Ich-Erzähler von Die guten Tage, den sie wegen seiner ungewöhnlich guten Deutschkenntnisse Švabo, den „Schwaben“, nannten, ist nach dem Abitur am Belgrader Gymnasium Nummer XVI nach Wien geflohen und hat sich in dessen von Ex-Jugos dominierten 15. Bezirk leidlich eingerichtet. Fünf Jahre Barkeeper, immerhin! Integriert? „Ob ich Kroaten oder Bosnier oder Albaner mehr hasse – das war die Frage, mit der ich mich am häufigsten herumschlagen musste“ (S. 161). Und weshalb eigentlich „geflohen“? Seine grenzenlose Verachtung des lieblosen, opportunistischen, von übersteigertem Nationalismus blinden Vaters, das gesellschaftliche Klima im einstigen Reich des Slobodan Milošević, den er als Kind lieben und als Jugendlicher hassen lernte, und die allgemeine Perspektivlosigkeit der Nachkriegszeit hatten ihn aus dem Land getrieben. Der Krieg ist da schon lang vorbei – vergangen ist er nicht: „In unseren Köpfen geht das Bombardement weiter“ (S. 83). Zehn Jahre später kommt eine Nachricht aus Belgrad: Švabos Großmutter ist gestorben, der einzige Mensch, der ihm jemals Liebe und Vertrauen schenkte. „Hau ab“, hatte sie ihm gesagt, „werde ein normaler Mensch, solange du kannst, sonst wirst du so wütend wie dein Vater und seine Brüder!“ (S. 41). Oder: „Geh weg von hier, so schnell du kannst! Hier kannst du nicht glücklich werden … Erst wenn du weg bist, werde ich auch glücklich sein!“ (S. 66). Nun wird er zu ihrer Beerdigung erwartet, und zwar mit dem Ring, den sie ihm einst überlassen hatte. Längst überwunden geglaubte Gefühle kommen zurück, vor allem die Angst vor dem Vater. Dennoch besteigt Švabo den berüchtigten „Gastarbeiterexpress“ (S. 9) und begibt sich auf eine lange und turbulente Fahrt in die serbische Hauptstadt – zu einer Zeit, in der die so genannte Balkanroute für viele Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten noch attraktiv war und die Grenzer sich entsprechend nervös verhielten. Die Busreise und die Beerdigung bilden den mit zahlreichen Rückblenden verschraubten Plot des in zwei Prosablöcke aufgeteilten Romans. Eine serbische Geschichte, gewiss, aber mit universellen Zügen, die über das Serbien-Thema hinaus die menschliche Existenz generell in den Blick nimmt.

Von den ersten Zeilen an ist man beeindruckt von der sprachlichen Kraft dieser literarischen Bilderflut, von der originellen, hochliterarischen, jungen und wilden Sprache, die auch an Drastik nichts zu wünschen übrig lässt. Der Bus, in dem man seinen Ex-Landsleuten nicht ausweichen kann, wird bei Dinić zum unverstellten, bunt und schrill ausgemalten Symbol: „Ein Bus in der Einöde als Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien – so gesehen hatte sich nichts verändert“ (S. 15). Die Fahrgäste? Ein wüstes Soziotop, das an manche Bilder von Hieronymus Bosch erinnern mag, in einem unangenehmen, miefigen und schrillen Raum, wo stiernackige, nach Schnaps riechende Männer ihre Kinder schlagen und ihre Frauen demütigen. „Konflikte waren diese Menschen gewohnt, vor allem aber, sie gleich wieder zu vergessen!“ (S. 48). Eine fast unerträgliche Reise ist das, noch dazu, wenn man einen dubiosen Sitznachbarn hat, der angeblich Elektriker ist, eigentlich aber auf Recherche geht für eine Art Chronik der äußeren und inneren Wunden, die die jüngere Geschichte seinem Land zugefügt hat. Dieser ältere Mann im fettfleckigen Pullover, eine Art Gegenfigur zu Švabo, dient dem Autor zu feinsinnigen Reflexionen darüber, wie Literatur mit Schmerz und Versehrtheit umgehen kann, soll oder muss. Švabo ist vor allem genervt von ihm, und Dinić interessiert sich weniger für dessen geplante Chronik menschlichen Unglücks als vielmehr für die richtige literarische Form, in der sich Trauer, Verletztheit, Angst, Hohn, Spott und Abscheu zur Sprache bringen lassen. Besonders im Hinblick auf die gefühlskalte Generation der „falschen Väter“, die „den Krieg mit nach Hause gebracht und das persönliche Trauma zu einem kollektiven gemacht hatten“ (S. 25). Wie genau das im Alltag ablief, wie der in einem tristen, kaputten und bisweilen gefährlichen Wohnviertel heranwachsende Junge seine Familie und seine Schulzeit erlebte, schildert der Autor mit großem Ernst und erstaunlicher Leichtigkeit. Serbien? Ein „Drecksland“ (S. 167), ein „Scheißland“ (S. 178)! Das Gymnasium? „Vier Jahre Geschichtsunterricht bei Marko fühlen sich heute, an diesem vorletzten Schultag, wie der Abschluss eines Ausbildungslagers für Verrückte und Zwangsgestörte an“ (S. 112). Gibt es Gegenwelten? Die Rock- und Popmusik jener Zeit natürlich. Auch Verbeugungen vor Rainer Maria Rilke (S. 130) und vor zeitgenössischen, von den Mächtigen ignorierten Schriftstellern wie Bora Ćosić (S. 77) fehlen nicht – Dichternamen, die am Gymnasium nicht vorkamen. Vergangenheit und Erzählgegenwart überlappen und vermischen sich auf einleuchtende, erhellende und produktive Art und Weise.

Den Rahmen des kürzeren zweiten Romanteils bildet das Begräbnis der Großmutter. Es regnet in Strömen, und die Verwandtschaft ist fast vollzählig versammelt: „Ich war ihre heimliche Phantasie gewesen, an der sie sich jahrelang aufgegeilt hatten. Zehn Jahre, in denen sie keine Kriege führen, in denen sie ihren Hass nicht nach außen tragen durften: Hier und jetzt bündelte sich alles“ (S. 184). Was aus der Kindheit und Jugend bleibt dem Protagonisten eigentlich? „Letzten Endes war ich nie ein Kind Belgrads gewesen, geschweige denn Serbiens, sondern der Abkömmling eines unansehnlichen Stadtteils, der allen getrost am Arsch vorbeigehen konnte“ (S. 198). Wenn der Švabo von heute sich jemandem nahe fühlt, wenigstens ein bisschen, dann sind das die Geflüchteten, die im Schatten des Busbahnhofs perspektivlos dahinvegetieren. Nichts wie weg aus dieser Stadt, aus diesem Land – „wie immer wollte ich nur noch weg!“ (S. 214). Gekonnt verzwirbelt Marko Dinić am Schluss einige wichtige Erzählfäden seines Romanteppichs – die Begegnung mit dem einstigen „Chef des Viertels“ (S. 227) mündet in eine Art Bilanz von Švabos Jugendjahren, der Elektriker-Chronist aus dem Bus wird elegant aus dem Text geworfen, und die Verachtung des inzwischen greisen Vaters klingt am Ende ein wenig milder als zuvor. Was noch? Nichts wirklich Neues. Die letzten Sätze des Romans lauten: „Ich öffnete die Augen. War nirgends angekommen“ (S. 236).

Marko Dinić, 1988 in Wien geboren und in Belgrad aufgewachsen, lebt in zwei Sprachen: Mit der Familie und vielen Freunden und Nachbarn spricht er Serbisch, anderswo redet er Wienerisch oder Deutsch. Das machte ihn früh sensibel für sprachliche Nuancen, aufmerksam für die kleinen und oft über die Sprache hinaus bedeutenden Unterschiede. Dinić studierte in Salzburg Germanistik und Jüdische Kulturgeschichte und veröffentlichte Lyrik und Prosa in diversen Literaturzeitschriften. Die guten Tage, in deutscher Sprache geschrieben, ist sein erster Roman. Wenig verwunderlich, dass die Lebensgeschichte des Erzählers deutliche Parallelen zur Biografie des Autors aufweist. Švabo ist eine Art Hiob, ein ewiger Migrant, stets unterwegs zu neuen Ufern und doch hoffnungslos und unauflösbar seiner Herkunft verbunden. Wahrscheinlich lebenslang: „Zwar lebte ich von nun an im Westen, doch das Misstrauen und die Angst führten auch hier in dieselbe Richtung wie im ehemaligen Jugoslawien vor dreißig Jahren: in Richtung Zerfall“ (S. 92). Wie konnte es geschehen, dass Menschen, die im zivilisierten Tito-Jugoslawien aufgewachsen sind, einen widerwärtigen, menschenfeindlichen Nationalismus zugelassen haben und immer noch zulassen? Natürlich gibt es auf diese von Marko Dinić stellvertretend für die im Serbien der 1990er-Jahre groß gewordene Generation aufgeworfene Frage keine bündige Antwort. Eine zufriedenstellende „Aufarbeitung“ jener Jahre steht nach wie vor aus. Die guten Tage, schon im Titel eine subversive Verhöhnung jeder Jugo-Nostalgie, ist ein wichtiger literarischer Beitrag dazu.

Um Literatur im emphatischen Sinne, um Sprachkunst also handelt es sich hier. Doch die Gegner eines explizit ästhetischen Zugangs zur Welt werden lauter. Noch ein ästhetisch durchgestalteter, fiktionaler Text zu diesem Thema? Hat man in den letzten beiden Jahrzehnten nicht genug davon gelesen, zum Beispiel deutschsprachige Romane, Erzählungen oder Essays von Melinda Nadj Abonji, Saša Stanišić, Nicol Ljubić, Marica Bodrožić und vielen anderen? Nein, offenbar nicht. Die Debatte um die Zuerkennung des Literaturnobelpreises an Peter Handke hat erneut gezeigt, wie aufwühlend und virulent das zentrale Thema von Die guten Tage bis heute ist und wie schwer man sich mit ästhetischen Zugängen dazu (immer noch oder schon wieder) tut. Allein deshalb: Marko Dinić lesen! Gäbe es den 2017 abgeschafften Chamisso-Preis noch, wäre dieser Autor ein heißer Kandidat für den Förderpreis. Er wird auch so seinen Weg machen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2020), Jg. 15, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 271–273.

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