Mit dem Ihnen vorliegenden Heft 2.23 setzen die Spiegelungen den Themenschwerpunkt »Kind und Gesellschaft« mit neuen thematischen Zugängen fort und möchten weitergehende Forschungen zur Geschichte der Kindheit im südöstlichen Europa anregen. Bei der Darstellung bestimmter Gruppen, Orte und Regionen wird zwar in der Regel die schulische Bildung und Sozialisation thematisiert – häufig aus dem Blickwinkel einer Konfliktgeschichte –, selten hingegen die sonstigen Aspekte der Kindheitsgeschichte, wie dies auf einer allgemeinen Ebene in der sozialhistorisch ausgerichteten Forschung seit den 1960er-Jahren erfolgt. Dabei wird vor allem auf prozessuale gesellschaftliche Wandlungen abgehoben, die unter anderem die Rolle des Kindes innerhalb der Familie, seine emotionale und soziale Einbindung, Fragen der Erziehung, der Kleidung, des Spiels, der Kinderliteratur, aber etwa auch medizinische Aspekte wie Kinderkrankheiten oder Kindersterblichkeit betreffen.
Tobias Weger untersucht anhand der lokalen Presse die sich von den 1880er-Jahren bis zum Ersten Weltkrieg hinziehenden, letztlich erfolglosen Bemühungen, in der damals oberungarischen Stadt Kaschau/Košice/Kassa mit Spielplätzen innerhalb des Stadtraums kindgerechte Freizeitorte zu schaffen. Ein geografischer und zeitlicher Sprung führt in die Sowjetukraine der Zwischenkriegszeit: In ihrem Beitrag zur »Militarisierung der Kindheit« analysiert Nani Hohokhiia die zunehmende Tendenz von damals in diversen Sprachen publizierten Kinderzeitschriften zu einer diskursiven Gewaltverherrlichung und Heroisierung von Opfern der kommunistischen Bewegung. Mit memorialen Aspekten der »Kindertransporte« befasst sich Monica Tempian. Diese humanitären Aktionen gewährleisteten im Zeitfenster zwischen der »Kristallnacht« vom November 1938 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 mehreren Tausend jüdischen Kindern aus unterschiedlichen europäischen Staaten die Flucht in sichere Aufnahmeländer und damit – häufig im Unterschied zu ihren zurückgebliebenen Angehörigen, die der Shoa zum Opfer fielen – das Überleben. In die aktuellen außerschulischen Sozialisationsmöglichkeiten von Kindern aus der ungarndeutschen Minderheit führen Szimonetta Waldhauser und Viktória Nagy ein und unterziehen sie einer systematischen Untersuchung.
Zum Themenschwerpunkt »Kind und Gesellschaft« gehört auch eine von Angela Ilić in der Rubrik »Quelle« präsentierte Sammlung von Aufnahmen aus dem IKGS-Fotoarchiv, die anhand von »Wandervogel«-Aktivitäten einige Einblicke in Praktiken der deutschen Jugendbewegung im Donau-Karpaten-Raum der Zwischenkriegszeit ermöglicht.
Einen Überblick zu den im Archiv von Bosnien und Herzegowina verwahrten Beständen aus der Zeit der Habsburgermonarchie steuert Jasmina Đonlagić Smailbegović bei und möchte damit vor allem auswärtige Forscher inspirieren, den dortigen umfangreichen Quellenfundus noch stärker als bisher in ihre Recherchen zur k. u. k.-Zeit einzubeziehen.
Von Edit Király stammt eine Darstellung kultureller Initiativen im slowakischen Štúrovo/Párkány zur Belebung des nachbarschaftlichen Verhältnisses an der Donaubrücke nach Gran/Esztergom ab. Es sind kleine Schritte, die dort unternommen werden, und doch stimmen sie hoffnungsvoll in einer Zeit, die so stark von globalen Konflikten dominiert wird. Die Rubrik »Wissenschaft« rundet Mária Rózsa ab mit einem Essay zum zeitgenössischen Presseecho auf den Brand des Deutschen Theaters von Pest im Februar 1847.
Im Literaturteil bieten die ersten Texte von Marjana Gaponenko, Robert Balogh oder Alta Vášová neue Perspektiven auf den Themenschwerpunkt und nähern sich der Kindheit mit dem Blick der sich erinnernden Erwachsenen. Orsolya Péntek zeigt aus der Perspektive einer Jugendlichen, wie die Ideologie diesen Lebensabschnitt einengt. Die weiteren Prosatexte erkunden die Vergangenheit Rumäniens auf unterschiedliche Art und Weise: Frieder Schuller in einem Fragment aus seinem neuen Roman, Pierre Pachet, indem er auf die jüdische Vergangenheit von Jassy zurückblickt, und Ilse Hehn, indem sie ihre Eindrücke literarischer Begegnungen skizziert.
Die Gedichte von Ilma Rakusa und Kristiane Kondrat führen uns schonungslos die Gegenwart vor. Die Gedichte von Sigrid Katharina Eismann und einigen Mitgliedern des Temeswarer Literaturkreises »Stafette« bieten abschließend lyrische Impressionen aus einer der diesjährigen europäischen Kulturhauptstädten. Daran knüpft im Feuilleton der Beitrag des Historikers Corneliu Pintilescu (Klausenburg/Cluj-Napoca) an, der
zurzeit assoziierter Wissenschaftler des IKGS ist. Er schildert – gemeinsam mit Florian Flörsheimer – das von ihm maßgeblich betreute Dokumentations- und Ausstellungsprojekt zur Alltagsgeschichte des Banats. Die Ausstellung war im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms im Frühsommer 2023 auch in Temeswar/Timișoara zu sehen. Ebenfalls dieser Stadt widmet sich Eszter János in einem Beitrag zum historisch mehrsprachigen Pressewesen in der Banater Metropole sowie Eszter Stricker mit einem Bericht zur Erschließung der Temeswar-Bilder und -Ansichtskarten im IKGS. Auf eine weitere Europäische Kulturhauptstadt 2023, das ungarische Wesprim/Veszprém, lenkt Anikó Szilágyi-Kósa den Blick, als sie zu den in der Region zwischen Wesprim und dem Plattensee/Balaton beheimateten Deutschen schreibt. Ein Bindeglied zwischen Temeswar und der europäischen Kulturhauptstadt 2020–2021, Rijeka/Fiume, die ungarische Publizistin und Zeitungsherausgeberin Emília Kánya, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Angela Ilić. Ein weiterer Text zu Temeswar, in dem Eleonora Ringler-Pascu das mehrsprachige Theatermilieu und –programm der Stadt im Kulturhauptstadtjahr vorstellt, ist auf www.spiegelungen.net verfügbar.
Einem Ungarn-Bezug in Oberbayern spürt Tobias Weger nach – einer barocken Darstellung der Schlacht auf dem Lechfeld vom 10. August 955 in der Pfarrkirche St. Ulrich in Eresing. Mit dem international renommierten Bildhauer Peter Jacobi hat der Spiegelungen-Autor Hellmut Seiler ein Interview geführt.
Wir hoffen, dass Sie auch in dieser Ausgabe der Spiegelungen wieder Anregendes, Interessantes und Informatives finden!
Ihre Spiegelungen-Redaktion
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 7-8.