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Einleitung: Freiraum und Eigen-Sinn

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In den nach dem Zweiten Weltkrieg von kommunistischen Regimen regierten Staaten Zentral- und Südosteuropas ließen sich – trotz repressiver Maßnahmen von Seiten der politischen Macht – gelegentlich in bestimmten Sphären des Öffentlichen und des Privaten Freiräume verschiedener Qualität, Beständigkeit und Dimension schaffen. Auf unterschiedliche Art und Weise ist es Menschen gelungen, dem staatlichen Zugriff zu entgehen, um sich zeitweilig im (kleinen) Kollektiv oder individuell ›eigen-sinnig‹[1] zu äußern oder zu verhalten. Die Schaffung, Besetzung und Nutzung solcher Freiräume bot, so die diesem Schwerpunktthema zugrundeliegende These, Möglichkeiten für »bewussten politischen Kampf«, »gesellschaftliche Verweigerung« und/oder »weltanschauliche Dissidenz«.[2] Andererseits konnte das Tolerieren solcher Freiräume seitens der Obrigkeit auch eine Ventilfunktion erfüllen und zur Stabilisierung eines autoritären Systems beitragen.[3] ›Freiraum‹ in diesem Sinne wird somit zu einem Feld, auf dem das Verhältnis zwischen herrschender Macht und Individuum beziehungsweise Kollektiven permanent ausgehandelt wird.

Auf diese Überlegungen sowie auf den von Alf Lüdtke im Kontext der Erforschung des Alltags von Fabrikarbeitern eingeführten und erstmals erprobten,[4] von Thomas Lindenberger weiterentwickelten Terminus »Eigen-Sinn« bauend, erörtern und reflektieren die Autoren dieses Schwerpunktthema mittels verschiedener methodischer Zugänge für Ostmittel- und Südosteuropa. Die Beiträge umfassen nicht nur im disziplinären, sondern auch im geografischen Sinne und in ihrer Themenauswahl ein breites Spektrum:

Krisztina Slachta (Budapest) beleuchtet die Komplexität sowie die gegensätzlichen Wahrnehmungen von Familien- und Heimatbesuchen vertriebener Ungarndeutscher nach Ungarn über den Eisernen Vorhang hinweg in den 1950er-Jahren. Berichte der ungarischen Staatssicherheit werden mit Erfahrungsberichten einzelner Reisender, die in der Zeitschrift Unsere Post, dem Periodikum der vertriebenen Ungarndeutschen in der Bundesrepublik Deutschland, erschienen, kontrastiert.

Johann Georg Lughofer (Laibach/Ljubljana) widmet sich der slowenischen Band Laibach und dem mit dieser verbundenen Künstlerkollektiv NSK (Neue Slowenische Kunst), die für ihre provokativen Auftritte und Projekte bekannt sind. Im Mittelpunkt des Beitrags steht eine Analyse der Verwendung der deutschen Sprache sowie von Elementen und Symbolen aus der deutschen Geschichte und Kultur als Manifestationen von »Eigen-Sinn«.

Ana Kladnik (Dresden) zeigt in ihrem Aufsatz anhand von Beispielen aus der Gemeinde Bačka Topola in der Vojvodina das ›eigen-sinnige‹ Handeln lokaler Freiwilliger Feuerwehren, einem Erbe aus der Zeit vor 1918, über die politischen und verwaltungsbezogenen Umbrüche im Spätsozialismus beziehungsweise während der postsozialistischen Transition in Serbien hinweg.

Răzvan Roșu (Budapest) stellt Ergebnisse einer Feldstudie im siebenbürgischen Motzenland (rum. Țara Moților) vor, die der mündlichen Überlieferung des Bildes »vom guten Kaiser« bis heute nachgeht. Er zeigt dabei ein alle ideologischen und politischen Entwicklungen überdauerndes Motiv im kommunikativen Gedächtnis, aus dem die lokale ländliche Bevölkerung ein besonderes, ›eigen-sinniges‹ Selbstbewusstsein zieht.

Katharina Kunter (Frankfurt am Main) erforscht ausgewählte Verbindungen und Kontakte zwischen Christen in den beiden deutschen Staaten und ihren Glaubensgeschwistern in Zentral- und Südosteuropa im Kalten Krieg. Sie untersucht, welche Freiräume existierten, die solche transnationale ökumenische Beziehungen ermöglichten, und inwieweit diese zu einer genaueren gegenseitigen Wahrnehmung in den beteiligten christlichen Gemeinden, aber auch in den jeweiligen Gesellschaften beitrugen.

Christina Rossi (Augsburg) nähert sich dem Schwerpunktthema über die literarische Gattung der Minimalprosa, die von einigen rumäniendeutschen Autorinnen und Autoren im sozialistischen Rumänien verwendet wurde. Dieses Genre ermöglichte es, durch Verdichtung und Absurdität – trotz Zensur und ideologischer Verengungen – schreibend Freiräume zu generieren und diese gleichzeitig in europäische Kontexte des engagierten Schreibens und Denkens sowie des Widerstands zu integrieren.

Angela Ilić, Florian Kührer-Wielach

Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

 

[1] Thomas Lindenberger: Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand. Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.9.2014, <http://docupedia.de/zg/Lindenberger_eigensinn_v1_de_2014?oldid=127929>, 29.5.2019: »Wo immer es um individuelle Verhaltensweisen und Handlungen in ihrer Bedeutung für Macht und Herrschaft, für Unterwerfung und Aufbegehren, für Mitmachen, Widerstehen oder Aussteigen gehen soll, bietet sich ›Eigen-Sinn‹ als historiographisches Konzept an.«

[2] Vgl. Richard Löwenthal: Widerstand im totalen Staat. In: ders., Patrick zur Mühlen (Hgg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945. Bonn 1984, S. 11–24, hier: S. 13f.

[3] Lindenberger: Eigen-Sinn: »›Eigen-Sinn‹ ist jedoch auch in der gezielten Nutzung und damit Reproduktion herrschaftskonformer Handlungsweisen zu beobachten, da diese für konkrete Individuen einen anderen – und sei es nur zusätzlichen – ›Sinn‹ beinhalten können als den der offiziellen Ideologie.«

[4] Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen. Frankfurt a. M. 1989.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.

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