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Einleitung: Ästhetik der Mehrsprachigkeit

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Südosteuropäisch-deutsche Sprachkunst

Das Schreiben in mehreren Sprachen blickt auf eine wesentlich längere Tradition zurück als die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit, die erst seit der Jahrtausendwende verstärkt in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher Untersuchungen gerückt ist. Die besondere Stellung des Deutschen im Südosten Europas wirkte und wirkt sich bis heute auf die unterschiedlichen Literaturen der Region und selbstverständlich auch auf die deutschsprachigen Literaturen aus. Besonderes Interesse kam in der Fachliteratur in dieser Hinsicht den Werken Herta Müllers oder Oskar Pastiors zu. Das vorliegende Heft widmet sich der ästhetischen Inszenierung von Mehrsprachigkeit und Sprachmischung in literarischen Texten, um der Frage nachzugehen, wie die mitschreibenden südosteuropäischen Sprachen und ästhetischen Traditionen die Sinnpotenziale der Werke gestalten, wobei die kulturelle Transferleistung der Literatur dadurch unmittelbar in der Vordergrund rückt.

Der erste Beitrag führt methodisch ins Thema ein, indem Natalia Blum-Barth (Mainz) neben einer Übersicht der aktuellen Forschungsansätze auch eine Typologisierung der literarischen Mehrsprachigkeit anbietet und zugleich deren Formen und Realisierungsmöglichkeiten inventarisiert. Die einzelnen südosteuropäischen Fallbeispiele der folgenden Beiträge, die repräsentativ, aber angesichts des begrenzten Rahmens nur selektiv sein können, erscheinen somit in einem breiten Kontext. An die Schlussfolgerung von Blum-Barth anknüpfend, dass literarische Mehrsprachigkeit kein Zufall sei, geht Laura Cheie (Temeswar/Timișoara) auf Paul Celans inszenierte Mehrsprachigkeit ein und führt anhand eines Gedichts aus, wie Vielstimmigkeit in poetisch inszenierten Dialogen zu einer Sprachmaske verschmelzen kann. Die Steigerung bis hin zur sprachlichen »Monstrosität« analysiert Erika Hammer (Fünfkirchen/Pécs), indem sie die Kopp-Romane von Terézia Mora untersucht, die Sprache als liminalen Zustand und Mehrsprachigkeit als Sprachreflexion beeindruckend vor Augen führen. Klassifikationen oder binäre Oppositionen werden hier also negiert und in transitorische Figurationen verwandelt. Der Prozess ihrer Auflösung wird wie im nächsten Aufsatz von Roman Mikuláš (Pressburg/Bratislava) zur Schau gestellt, der Irena Brežnás Schreibweise einer präzisen Analyse unterzieht. Sowohl Mora als auch Brežná sind neben dem eigenen Schaffen auch als Übersetzerinnen tätig und verstehen sich als Grenzgängerinnen, für die Sprache vom Nationalen losgelöst ist und die sie sich selbst erarbeiten beziehungsweise erschaffen.

Ausgehend von Niklas Luhmanns Skepsis gegenüber einem Kulturbegriff verbindet Mikuláš den schöpferischen Umgang mit Multilingualität mit systemisch orientierter Forschung und wertet sie im Hinblick auf die Untersuchung der Konzepte der Inter- bzw. Transkulturalität in literarischer Kommunikation aus.

Der letzte Aufsatz erweitert abschließend erneut die Perspektive und den territorialen Blick durch die Einbeziehung von Beispielen aus der Reiseliteratur. Die bei Brežná thematisierte scheinbare Unvereinbarkeit der Kulturen wird auch in den von Ferenc Vincze (Budapest) ausgewählten Texten problematisiert und stellenweise durch die bewusste Konstruktion von Differenz aufgelöst. Dabei steht die transnationale Inszenierung des Raumes und der Mehrsprachigkeit bei der ungarischen Autorin Noémi Kiss, der deutschen Esther Kinsky und dem rumänischen Schriftsteller Radu Țuculescu im Mittelpunkt.

Durch die Auflösung der beschränkenden nationalen Perspektive führt der wissenschaftliche Teil des Heftes – ergänzt um einen Beitrag von Christina Rossi (Dortmund) zu Herta Müllers frühestem, wenig erforschtem Schaffen – in eine südosteuropäisch-deutsche Mehrsprachigkeit ein, die zwar territorial gekennzeichnet ist, aber, wie die Beiträge veranschaulichen, universelle Züge aufweist. Diese Ästhetik der Mehrsprachigkeit prägt auch den literarischen Teil des vorliegenden Heftes, in dem die Thematik gattungsübergreifend – in Essays von Maja Haderlap oder Barbi Markovic, in der Prosa Thomas Perles, Dimitré Dinevs oder Robert Baloghs und ebenso in der Lyrik von Ilma Rakusa, Carmen Puchianu oder Robert Elekes – direkt oder indirekt aufgegriffen und die sinnstiftende Wirkung der Mehrsprachigkeit veranschaulicht wird.

Eniko Dácz, Gesine Lenore Schiewer

Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.

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