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Einleitung: Transnationale Karpaten

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Die Karpaten – jene Bergkette, die sich von Tschechien über die Slowakei, Ungarn, Polen, die Ukraine und Rumänien bis hin nach Serbien erstreckt – sind ein wichtiger geografischer, wirtschaftlicher und kultureller Marker in Zentraleuropa. Als Refugium und Kriegsschauplatz, Ort des Handels und der spirituellen Erneuerung, ein schwer umkämpfter, mitunter gefährlicher Lebens- sowie touristischer Raum, waren die Karpaten im Laufe der Jahrhunderte Kontaktzone vielschichtiger Kulturen, weshalb die Erschließung der Karpaten nur interdisziplinär erfolgen kann, wie in dem 2014 von Harald Heppner herausgegebenen gleichlautenden Band.[1] Einzelnen, ausgewählten Aspekten der Thematik widmeten sich in den letzten Jahrzehnten auch vermehrt Bücher.[2] Im Vergleich zu ihren größeren Verwandten, den Alpen, deren literarische Imaginationen in etlichen Bänden erforscht wurden,[3] fanden jedoch die diskursiven Konstruktionen der Karpaten wesentlich weniger Aufmerksamkeit.[4] Hier setzten die Herausgeberinnen des Themenschwerpunktes an und bauten auf den Raumdiskursen nach dem Spatial Turn auf, als sie einen zweisprachigen Call for Papers starteten, um die Transnationalen Karpaten über sprachliche Barrieren hinaus in den Mittelpunkt zu stellen. Die zahlreich eingegangenen Vorschläge widerspiegelten einerseits das rege Interesse an der Thematik, sprengten andererseits den Rahmen eines Heftes, sodass sich auch die Ausgabe 2.21 den Karpaten-Narrativen widmen wird. Der begrenzte Rahmen lässt dabei selbstverständlich keine umfassende Schilderung ausgewählter Aspekte zu. Ziel der Herausgeberinnen war vielmehr, die Vielfalt der Zugänge zu veranschaulichen und neue Forschungsfelder in den Fokus zu rücken.

Das vorliegende Heft befragt Karpaten-Narrative auf ihre Funktion in ethnischen, nationalen und imperialen Identifikationsprozessen, beginnend mit dem 18. Jahrhundert. Benedikt Stimmer (Wien) eröffnet den Themenschwerpunkt mit einem Beitrag über den Naturforscher und Alpinisten Balthasar de la Motte Hacquet, dem in der Fachliteratur in letzter Zeit vermehrt Aufmerksamkeit zukam. Im Vordergrund steht die politische Instrumentalisierung der Karpaten in Hacquets Bericht, der diesen im ausgehenden 18. Jahrhundert noch weitgehend unbekannten Karpatenraum erstmals einem breiteren bürgerlichen Lesepublikum vermittelte. James Koranyi (Durham) lenkt anschließend den Blick auf weniger beachtete britische Frauen, für die die Karpaten Teil eines transnationalen europäischen Milieus waren und deren Karpaten-Narrative zum Beispiel die Ost-West-Binarität und nationale Kategorisierungen hinterfragten. Die hier erwähnte Ștefania (Fanny) Szekulics, die unter dem Pseudonym Bucura Dumbravă bekannt wurde, wird im nächsten Heft auch im Kontext rumänischer Karpaten-Diskurse behandelt.

Martin Rohdes (Halle) wissensgeschichtliche Übersicht zu relevanten nationalen und imperialen Blickwinkeln geht auf die ukrainischen Zugänge sowie auf die polnisch-ukrainische Konkurrenz in Galizien ein, während Curtis Swope (Texas) Karpaten-Diskurse zwischen Existentialismus und Marxismus beziehungsweise an der Schnittstelle zwischen Literatur (Anna Seghers) und filmischer Darstellung (von Sergei Paradschanow und Liviu Ciulei) analysiert. Karpatische Transnationalität, Unterdrückung und Hartnäckigkeit zeigen sich hier als Universalien, die in ihrer lokalen Spezifik reflektiert werden. Die lokale beziehungsweise regionale Spezifik rückt im folgenden Beitrag von Réka Jakabházi (Cluj-Napoca/Klausenburg) in den Vordergrund, der den Blick auf die Darstellung der Karpaten in der siebenbürgischdeutschen und -ungarischen Lyrik der Zwischenkriegszeit richtet. Diese Perspektive setzt auch der Werkstatt-Aufsatz von Tajana Hevesiová (Bratislava/Pressburg) fort, der die These aufstellt, dass in der Zipser Mundartliteratur aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert die Karpaten als Landschaft nicht national konnotiert seien, sondern eher eine lokale oder regionale Identität zum Ausdruck bringen.

Der Themenschwerpunkt wird in der Rubrik »Quelle« ergänzt, in der der Botaniker Klaus Niedermaier (1931–1987) im siebenbürgisch-sächsischen Kontext das widerspiegelt, worüber Hevesiová bezüglich der Zipser schreibt. Zudem wird die Verflechtung unterschiedlicher Diskurse, vom wissenschaftlichen über den literarischen, historischen bis hin zum ökonomischen exemplarisch vor Augen geführt. Im literarischen Teil führen dann die Gedichte von Alexandru Bulucz, Werner Söllner, Ilse Hehn und Thomas Perle sowie die Erzählung von Dana Grigorcea unsere Leser auf Entdeckungsreisen in die Karpaten.

Raluca Cernahoschi und Enikő Dácz

Erfahren Sie hier mehr über dieses Heft.

 

[1] Harald Heppner (Hg.): Die Erschließung der Karpaten. Danubiana Carpathica 8 (55) 2014. München 2015.

[2] Siehe u. a. Patrice M. Dabrowski: The Carpathians. Discovering the Highlands of Poland and Ukraine. Illinois 2021; Bianca Hoenig: Geteilte Berge. Eine Konfliktgeschichte der Naturnutzung in der Tatra. Göttingen 2018; Paul R. Magocsi: With Their Backs to the Mountains. A History of Carpathian Rus’ and Carpatho-Rusyns. Budapest, New York 2015; Kurt Scharr (Hg.): Die Karpaten. Balthasar Hacquet und das »vergessene« Gebirge in Europa. Innsbruck 2004; Raz Segal: Genocide in the Carpathians. War, Social Breakdown, and Mass Violence, 1914–1945. Redwood City 2016.

[3] Siehe u. a. Kathrin Geist: Berg-Sehn-Sucht. Der Alpenraum in der deutschsprachigen Literatur. Paderborn 2018; Sean Ireton, Caroline Schaumann (Hgg.): Heights of Reflection. Mountains in the German Imagination from the Middle Ages to the Twenty-First Century. Rochester, NY 2012; Johann Georg Lughofer (Hg.): Das Erschreiben der Berge. Die Alpen in der deutschsprachigen Literatur. Innsbruck 2014; Leonie Silber: Poetische Berge. Alpinismus und Literatur nach 2000. Heidelberg 2019; Hansjörg Küster: Die Alpen. Geschichte einer Landschaft. München 2020.

[4] Für einzelne Initiativen siehe u. a. Csaba Gy. Kiss: Kult karpat w literaturze węgierskiej. Mozaika [Der Karpaten-Kult in der ungarischen Literatur. Ein Mosaik]. In: Herito 36 (2019) H. 3, S. 98–107; das Projekt »Tatry v literatúre« [Die Tatra in der Literatur], <http://www.literaturapp.6f.sk/index.php>, 17.3.2021; Jacek Kolbuszewski: Literatura i Tatry. Studia i szkice [Literatur und Tatra. Studien und Skizzen]. Zakopane 2016.

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.

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