Voller Aufregung und Neugier blickte ich an meinem ersten Tag auf den Arbeitstisch im IKGS. Mehr als 1.000 Ansichtskarten, Bilder und Fotografien lagen vor mir. Manche Objekte stammten aus dem Jahr 1890, einige von 1989; es gab Porträts mit ernsten Gesichtern aus der Vergangenheit, Postkarten mit perfekter Kalligrafie, Fotos über heitere Abendgesellschaften und Bilder von hoffnungsvollen Revolutionären. Alle diese Bilder hatten eines gemeinsam: Sie berichteten über die Stadt Temeswar und ihre Umgebung.
Persönlich kannte ich Temeswar (rum. Timișoara, ung. Temesvár) nur aus beiläufigen Erzählungen aus meiner Kindheit in Siebenbürgen. Erst durch dieses Projekt rückte die mir damals geografisch nahegelegene Stadt auch wissenschaftlich in den Fokus. Meine Aufgabe sollte sein, diese umfangreiche Sammlung im Rahmen des Erschließungsprojekts »Vorbereitung auf Digitalisierung von Beständen zu Temeswar/ Timișoara / Temesvár, Europäische Kulturhauptstadt 2023« zu bearbeiten. Eine Aufgabe, deren Arbeitsumfang ich anfangs unterschätzt hatte.1Mehr über das Projekt können Sie unter <https://www.ikgs.de/kulturhauptstadt-2023/>, 25.9.2023, erfahren.
Jedes einzelne Objekt musste in eine Datenbank aufgenommen werden. Diese Datenbank sollte jedes der zu digitalisierenden Objekte mit frei zugänglichen Informationen versehen. Die Feinerschließungsarbeit bedeutete, dass jedes Bild einzeln untersucht, gemessen und auf seinen Zustand hin geprüft werden sollte. Die Auf-, Unter- und Überschriften mussten transkribiert, die Objekte – wenn möglich – datiert und die abgebildeten Personen sowie die Urheber ermittelt werden.
In manchen Momenten konnte ich mich in die akribische Ermittlungsarbeit großer Detektive aus bekannten Geschichten hineinversetzen. Wem gehörten die Gesichter, die auf mehreren Bildern auftauchten? Es mussten bekannte Persönlichkeiten sein. Welches Amt hatten sie inne, und aus welcher einflussreichen Familie kamen sie?
Was haben sie in Temeswar gemacht? Waren sie Bewohner oder nur Besucher der Stadt? Oft konnte ich durch Recherche und Rücksprache mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern aus dem IKGS schlüssige Erklärungen finden, aber manchmal blieben die Personen und deren Hintergrund unbekannt. Auch wenn ich die Identität mancher Gesichter nicht aufklären konnte, gaben sie doch alle ein Gefühl für den Puls der damaligen Zeit und machten die vielen Stunden Arbeit an diesem Projekt immer aufregend.
Nicht nur Porträts und Gruppenbilder fanden sich unter den Objekten des Bestands. Wie erwähnt, gab es auch zahlreiche Ansichtskarten, welche die alten Straßen und Plätze Temeswars zeigten. Es ist besonders interessant festzustellen, wie sich die Zahl der Häuser über die Jahre vermehrte. Einfache Straßen, mit Kutschen befahren, wurden ausgebaut und langsam von den ersten Autos erobert. Dennoch blieb in der Stadt viel unverändert, unter anderem der im Banater Gebirge entspringende Fluss Bega, der durch Temeswar fließt und zu allen Zeiten ein wichtiger Bestandteil des Stadtbildes war.
Auf einer der Ansichtskarten steht ein handschriftlicher Text, der die Temeswarer Landschaft mit dem Fluss Bega lobt. Mit den Worten Goethes heißt es dort: »Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.« Der Autor erwähnt weiter: »Wozu noch nach Venedig reisen? Kann eine Nacht in Venedig schöner sein als dieser [sic] am Strande der Bega? Die Gondeln sind leider nicht mehr da, die sind schon nach Hause gefahren, weil es bereits schon zu spät ist.»
Die kulturelle Vielfalt des damaligen Stadtlebens in Temeswar wird vor allem an den verschiedenen Sprachen ersichtlich, die das Leben damals und auch heute noch prägen. Glücklicherweise beherrsche ich alle drei im Bestand verwendeten Sprachen: Rumänisch, Ungarisch und Deutsch. Auch wenn die Schrift manchmal schwer zu lesen war, war es für mich als angehende Historikerin eine sinnvolle und lehrreiche Herausforderung, nicht nur die Handschriften und Schriftarten zu entschlüsseln, sondern auch in allen drei Sprachen den Wortschatz vergangener Jahrhunderte kennenzulernen.
Zur Zeit des Ersten Weltkrieges wurden aus Temeswar Karten von besorgten Müttern an die Front geschickt, Dienstmädchen berichteten über ihr Leben in der Stadt, Lehrer schrieben über schwierige Schüler, und Schüler gaben Berichte an ihre Eltern ab. Einige schrieben auf Deutsch und hatten ungarische Namen, manche versuchten sich mit grammatikalisch fehlerhaftem Rumänisch auszudrücken. Das Zusammenleben von Deutschen, Ungarn, Rumänen und Vertretern zahlreichen anderen sprachlichen, nationalen und religiösen Gruppen während der Jahrhunderte prägte die Stadt und machte sie zu einem kulturellen Zentrum, in dem sich Menschen jeder Sprache und jedes Hintergrunds zu Hause fühlen durften.
Unter den Fotografien mit Temeswar-Bezug befinden sich auch zahlreiche, die – aufgrund ihrer noch laufenden Rechteklärung – erst später digitalisiert werden können. Dazu gehören mehrere Sammlungen, die ich hervorheben möchte:
Einen besonderen Einblick in das kulturelle Leben der Stadt gewährt die Sammlung von Fotografien aus dem Deutschen Staatstheater in Temeswar. Zahlreiche Fotos von Aufführungen sowie Porträts einzelner Schauspielerinnen und Schauspieler, jubelnde Menschenmengen und auch selten gesehene Fotos, die hinter der Bühne aufgenommen wurden, zeigen Momentaufnahmen aus dem Leben der Kulturschaffenden und der Kulturinteressierten.
Auf einer Sammlung weiterer Bilder sieht man Versammlungen deutschsprachiger Autoren und Literaturliebhaber im Banat. Die Lesungen und Aufführungen fanden manchmal bei einem gemütlichen Abendessen in Privathäusern oder auf öffentlichen Bühnen statt.
Ein beachtlicher Teil der 1.000 Objekte gehört zum Nachlass Nikolaus Berwangers. Der deutsche Schriftsteller, Journalist und Kulturfunktionär aus Rumänien überließ dem IKGS eine umfangreiche Sammlung, zu der auch zahlreiche Bilder gehören, die das kulturelle und gesellschaftliche Leben der Menschen in der Banater Region von den 1950er-Jahren bis Ende der 1970er-Jahre dokumentieren. Hauptsächlich sind es Aufnahmen aus dem Stadtbereich Temeswars, die verschiedene Veranstaltungen wie Trachtenschauen oder traditionelle Feiern zeigen.
Temeswar war stets offen gegenüber den kulturellen Einflüssen verschiedener, in der Stadt vertretener Kulturen, doch auch aus technologischer Sicht ist zu erwähnen, dass es als eine der ersten europäischen Städte eine elektrische Straßenbeleuchtung einführte. Neben einer Straßenbahn und zeitgenössischer Architektur beeindruckte die Stadt ihre Einwohner und Besucher mit einer Mischung aus Offenheit für Innovationen und der Pflege der kulturellen Traditionen.
Der Einblick in Temeswars Vergangenheit hinterließ viele bleibende Eindrücke. Es sind vor allem Momentaufnahmen der Revolution aus dem Jahr 1989, die mich besonders beeindruckt haben. Die Bilder der Revolution erzeugen eine besondere Stimmung: Der Moment, in dem die jahrelange Unruhe, wachsende Hoffnung und unterdrückte Freiheitssehnsucht aus den Herzen überfließt und die Menschen auf die Straßen gehen, um die Gegenwart und, wie sie hofften, auch die Zukunft zu verändern. Flammen, Demonstranten, Panzer und Tränen. Darauf folgen Weihnachtsbilder, ebenfalls aus dem Jahr 1989. Besondere Feiertage in der Geschichte Rumäniens: Erinnerungskränze, zerstörte Straßen und die ersten Tage der neuen Realität.
Die Entwicklung der Stadt, das Leben von Einzelnen durch Freude und Trauer in einer Zeitspanne von mehr als 100 Jahren anhand dieser Sammlung begleiten zu können, verband mich mit Temeswar auf eine ganz besondere Art und Weise. Es ist, als ob die Bilder und Postkarten, die vielen individuellen Eindrücke eine Art Biografie der Stadt in einem bestimmten Zeitraum ergeben. Ein Kapitel der Stadtgeschichte, welches durch 1.000 Eindrücke und deren Hintergründe lebendig wurde.
Ein Projekt wie dieses ermöglicht über das Kulturhauptstadtjahr hinaus, Eindrücke langfristig zu bewahren. Der Einblick in die Sammlung ist nur wenige Klicks entfernt. Die Digitalisierung des Großteils der bearbeiteten Bestände wurde durch das Digitale Forum Mittel- und Osteuropa (DiFMOE) durchgeführt. Auf dessen Webseite kann man zielgerichtet nach bestimmten Bildern suchen und durch Georeferenzierung sogar die Aufnahmen auf einer Karte lokalisieren.
Durch dieses Projekt blickt das IKGS in die Zukunft und zeigt, wie wichtig es ist, Geschichte digital für die jetzigen und nachfolgenden Generationen aufzubewahren und sie ihnen zur Verfügung zu stellen. Übrigens machte man sich über die Zukunft der Stadt schon vor vielen Jahrzehnten Gedanken, wie eine historische Ansichtskarte mit einer Zukunftsvision von Temeswar zeigt.
Eszter Stricker
Eszter Stricker wurde 1998 in Rumänien geboren und zog noch als Kind mit ihren Eltern nach Ungarn, wodurch sie sowohl Rumänisch als auch Ungarisch beherrscht. Sie studierte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Während ihres Studiums arbeitete sie im IKGS als Projektbearbeiterin. Aktuell setzt sie ihr Masterstudium in Geschichte an der Fernuniversität in Hagen mit einem Schwerpunkt auf Digitalisierungsprozessen, Osteuropäischer Geschichte und Public History fort.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 203–208.
Anmerkung zum Bild mit Signatur TEM 5.22: Das Digitalisat durch das Digitale Forum Mittel- und Osteuropa (DiFMOE) ist unter https://www.difmoe.eu/view/uuid:800770ed-6a93-42ae-9e44-16af6d8cffaa?page=uuid:73890a17-273a-4f05-aaa4-e3ee38d37bcc, 25.9.2023, abrufbar.
Anmerkung zum Bild mit Signatur TEM 3.94: Das Digitalisat ist unter https://www.difmoe.eu/view/uuid:577f951b-e396-47f9-9b7f-54ca7b990096?page= uuid:f3a408bd-f00b-485a-82d9-783fe026ed0e, 25.9.2023, abrufbar.
Anmerkung zum Bild mit Signatur TEM 3.32: Das Digitalisat ist unter https://www.difmoe.eu/view/uuid:cc51394f-74c9-4525-837c-e3fa15a7a57c?page= uuid:9c879088-e792-4d6c-a61c-50e02a8121f0, 25.9.2023, abrufbar.
Anmerkung zum Bild mit Signatur TEM 3.6: Das Digitalisat ist unter https://www.difmoe.eu/view/uuid:44ab16bf-cfe7-4840-8546-ae768f5efa9e?page= uuid:18c4e322-88ca-4523-8d9a-08726f55b355, 25.9.2023, abrufbar.