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Biografisches Doppel: 2 x Franz Joseph | Rezension

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Christoph Schmetterer: Kaiser Franz Joseph I. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2016. 229 S. Illustrationen. Michaela und Karl Vocelka: Franz Joseph I. Kaiser von Österreich und König von Ungarn (1830–1916). Eine Biographie. München: C. H. Beck 2015. 458 S. Illustrationen.

Von Stephan Sander-Faes

»Krieg ist Gottes Weg, um Amerikaner in Geografie zu unterrichten«, lautet ein oftmals gebrauchtes geflügeltes Wort. Im Angesicht der vielen Jahrestage und Jubiläen beziehungsweise der diese üblicherweise begleitenden Publikationen ist man nahezu versucht, es wie folgt abzuwandeln: Biografien und Lebensdarstellungen sind der erste – und oftmals einzig beschrittene – Weg, sich der Vergangenheit anzunähern. Inmitten der so vielen, meist ausgesprochen umfangreichen Publikationen, welche die hundertste Wiederkehr des Ausbruchs des »Großen Krieges« begleiteten, erschienen mit Christopher Clarks The Sleepwalkers und, ähnlich argumentierend, Jörn Leonhards Kaiser Franz Joseph I. Die Büchse der Pandora zwei Darstellungen, die ältere, weitaus eindeutigere Narrative zum Themenkomplex Kriegsschuld und -ziele beziehungsweise -auslöser zum Teil stark relativierten.[1] Entgegen Fritz Fischers These[2] und entfernt vom Historikerstreit[3] begleitet sowie von der revisionistischen Position Niall Fergusons[4] arg in Mitleidenschaft gezogen, brachte das »Jubiläum« des Ersten Weltkrieges eine breit gefächerte Debatte hervor, die auch weit außerhalb der akademischen Fachzirkel ausgesprochen lebhaft geführt wurde.

Gleichsam inmitten der Gedenken und Publikationswellen erschienen zwei neue Lebensbeschreibungen eines mit dem Kriegsausbruch ursächlich verbundenen Protagonisten, des habsburgischen Monarchen Franz Joseph I. Dieses mittlerweile beinahe vorhersehbare »biografische Doppel« der Verlagshäuser Böhlau und C. H. Beck weist jedoch durchaus unterschiedlichere Ergebnisse aus, als angesichts der Thematik und spröden Persönlichkeit des vorletzten Herrschers aus dem Haus Habsburg-Lothringen zu erwarten war.

Christoph Schmetterer, Rechtsanwalt und -historiker, legt mit seiner Biografie einen zwar genre-üblich an Geburt und Tod orientierten, konzisen Abriss von Franz Josephs Leben vor, der – von einer entscheidenden Ausnahme abgesehen – eher thematisch als chronologisch aufgebaut ist. Dem gegenüber steht die weitaus umfangreichere Darstellung von Michaela und Karl Vocelka, eine erneute Koproduktion[5] der Leiterin des Wiener Simon Wiesenthal Archivs und des langjährigen Vorstands des Instituts für Geschichte der Universität Wien. Diese ist zwar traditioneller gegliedert, wenn auch die dem Lebensverlauf folgende Abhandlung durch die detaillierte Präsentation struktureller Schwerpunkte (S. 226–259, 313–340) erweitert wird.

Beide Bücher sind gut lesbar, allerdings ist bei Schmetterer ein gelegentlich durchbrechender salopper Tonfall bemerkbar; eine zweite Schwachstelle ist der gewählten Darstellungsform geschuldet, die einige Passagen redundant erscheinen lässt (z. B. zur »Bauernbefreiung «, vgl. S. 32, 38; oder zu den Wahlrechtsreformen, vgl. S. 62f., 66f.). Hinzu kommt die schwerwiegendere Frage nach der Aktualität der verwendeten Literatur, da die Verweise darauf ausgesprochen »dünn« ausgefallen sind (S. 204–211) und weder fremdsprachige Titel noch die jüngeren, durchaus revisionistischen Deutungen, etwa von Pieter Judson oder John Deak, berücksichtigen.[6]

Im Gegensatz dazu ist die Biografie von Michaela und Karl Vocelka vielfach näher an der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Forschung. Einer angemessenen Verortung in der österreichischen Nachkriegszeit (S. 11f.) und einem Vorbehalt gegenüber dem Genre (S. 13–15) folgen zwei klare Aussagen über die Ziele des Buches: einerseits eine auf kulturanthropologischen Überlegungen basierende »thick description«, andererseits eine Besprechungen »educational biography«, die auch »die ersten 18 Jahre ausführlich behandel[t]« (alle auf S. 14, Hervorhebung im Original). Angesichts der vielen vorliegenden Quellen und Biografien zu Franz Joseph ist dies jedenfalls ein Aspekt, der auch in Lebensdarstellungen anderer Zeitgenossen des Kaisers oftmals wünschenswert wäre.[7]

Demnach steht zunächst eine ausführliche Darstellung der Kindheit und Jugendjahre Franz Josephs im Fokus (S. 16–55), die so bei Schmetterer gar nicht aufscheint. Des vermeintlichen Thronfolgers Frühzeit findet sich, so fremd sich dessen Erziehung und antrainierter Habitus heute ausnehmen mögen, im Buch von Michaela und Karl Vocelka weitgehend ohne anachronistische Bewertungen dargestellt. Man erfährt viel über Franz Josephs Begeisterung für das Militär und seine wenigen engeren Spielgefährten, die sich nahezu allesamt im späteren Umfeld des Kaisers wiederfinden – etwa Eduard Graf Taaffe als langjähriger Ministerpräsident Cisleithaniens oder Richard von Metternich als österreichischer Diplomat (S. 42f.).

Die Lektüre gerade dieses Kapitels hinterlässt jedoch einen beinahe schalen Beigeschmack, der sich in beiden biografischen Darstellungen findet: Mehrfach »gebrochen« durch zeitgenössische Kommentare, eigene Briefe und Tagebucheinträge, werden zwar Franz Josephs Charakter und Ausbildung, ja, sein gesamtes Wesen nachvollziehbarer, nicht aber das Grundproblem seines Lebens. Geboren 1830, erlebte er die »Große Transformation« (Karl Polanyi) an der Spitze eines der größten Staatswesen Europas – eine Epoche, die durch das lange Ende des Ancien Régime sowie den gleichzeitigen Siegeszug von Industrialisierung, Massenpolitik und den Triumph der bürgerlich-kapitalistischen Weltwirtschaft gekennzeichnet war. Franz Josephs Leben spiegelt den umfassenden Wandel wider, der damit einherging: Das Individuum als schöpferische Kraft tritt – zunehmend deutlicher – hinter die verschiedenen Strukturen oder »Bedingungen « (Herbert Spencer) zurück.

Im Leben Franz Josephs gibt es hierfür jedenfalls zwei bedeutsame Momente, die an dieser Stelle beispielhaft angeführt seien. Zum einen ist es das Scheitern seiner neoabsolutistischen Vorstellungen im Nachgang der Revolution von 1848/49. Nach der Rücknahme aller konstitutionellen Gehversuche durch die Silvesterpatente (31. Dezember 1851) musste Franz Joseph spätestens nach den Niederlagen bei Magenta und Solferino (1859) beziehungsweise Königgrätz (1866) auch sein persönliches Scheitern anerkennen. Dem »Ausgleich« mit Ungarn (1867) folgte eine schrittweise Konstitutionalisierung der Monarchie, welcher der Kaiser und König zwar weiterhin wenig abgewinnen konnte, der er aber immerhin im weiteren Verlauf seiner Regierungszeit weitgehend treu blieb.

Das zweite Beispiel ist, unvermeidbar, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ein seit der Julikrise 1914 heiß umfehdetes Minenfeld. Die Rolle des Kaisers in dieser Angelegenheit findet sich in beiden Biografien beinahe zurückhaltend beschrieben. Christoph Schmetterer weist mehrfach (etwa auf S. 53, 94f.) auf Franz Josephs unbedingtes Vorrecht hin, über Außenpolitik und Militär zu bestimmen; dieser Lesart folgend, ist der Kaiser und König, der ja letztlich nur seinem Gewissen (und Gott) verpflichtet war, für die Kriegserklärung an Serbien verantwortlich. Im Gegensatz zu dieser – letztlich einzig logischen Konsequenz – tritt Franz Joseph in Schmetterers Darstellung der Julikrise kaum auf, der Kaiser hatte lediglich Außenminister Kaiser Franz Joseph I. Berchtold »am 28. Juli ermächtigt […], Serbien den Krieg zu erklären« (S. 183). Auf den Folgeseiten finden sich weitere Erläuterungen zu der Rolle Franz Josephs (S. 185–188, das folgende Zitat auf S. 185), die sich, in Anlehnung an Ernst Hanischs Einschätzung, mit der klaren Positionierung, dass »[d]ieser Krieg […] von Franz Joseph begonnen [wurde]«, zusammenfassen lassen. Michaela und Karl Vocelka wiederum sprechen sich angesichts der Faktenlage mit Sean McMeekin für »verschiedene Grade der Verantwortung« aus, wobei die Hauptschuld beim Attentäter, dessen Verschwörern von der »Schwarzen Hand« und Teilen der serbischen Armee auszumachen sei; Franz Joseph hingegen habe die Kriegstreiber in der eigenen Regierung »lediglich bestätigt […], ohne selbst besonders aktiv gewesen zu sein« (S. 351–355, Zitate auf S. 354).

An beiden Beispielen tritt jedoch die erwähnte Grundproblematik der Epoche beziehungsweise von Franz Josephs Person und Leben geradezu beispielhaft zutage: ein Mensch, der den Gang der Ereignisse, gewiss im Sommer 1914 auch bedingt durch sein hohes Alter, nicht (mehr) aufhalten kann, wenn er es denn jemals vermochte. In den letzten Jahren bewegte sich die Forschung zum Kaisertum Österreich, vor allem aber der Doppelmonarchie, (erneut) zunehmend in Richtung der Frage, inwieweit diese in ihren letzten Jahrzehnten ein »lebender Anachronismus« war – und dies tritt in der Julikrise hervor:[8] Unfähig, sich gegen die Kriegstreiber in den eigenen Reihen zu wehren, wird Franz Joseph in beiden Biografien eine weitgehend passive Rolle zugewiesen; weder Christoph Schmetterer noch Michaela und Karl Vocelka vermögen, diese zum Teil widersprüchliche Einschätzung argumentativ zu überschreiten.

Schmetterers Ausführungen sind jedoch zum Teil auch inhaltlich fragwürdig: Im Abschnitt über die Familie (S. 125–167) finden sich zwar Hinweise auf die Differenzierung von Familien und Staatsvermögen, nicht aber auf die nach dem Ende der Monarchie dadurch verursachten Probleme;[9] hinzu kommen eine teilweise anachronistische Wortwahl (z. B. »Westmächte«, S. 75) sowie die oberflächliche Behandlung des »Balkans « (S. 86–96). Die dünnere Präsentation passt somit zum Teil in die Kritik von Michaela und Karl Vocelka (S. 13f.), von denen eine oftmals als »einseitig« bezeichnete Quellen- und Dokumentenauswahl bemängelt wird, die eben zu ähnlich einzuschätzenden Interpretationen führt.

Demgegenüber nimmt sich die umfangreichere Darstellung Michaela und Karl Vocelkas als gut lesbare Biografie mit verändertem Fokus auf unter anderem das Privatleben und die formativen Jugendjahre des Kaisers aus, die somit der jüngeren Forschung – wie etwa Wolfram Siemanns 2015 erschienener Metternich-Biografie – gerecht wird.[10] Zudem geht daraus deutlich hervor, dass Geschichte eben »komplizierter« ist als angenommen, aber nicht minder unverzichtbar für das Verständnis der Gegenwart – ein, wenn nicht der zentrale Punkt, auf den auch Timothy Snyder kürzlich hingewiesen hat.[11]

In beiden Darstellungen bleibt allerdings das zentrale Dilemma des Genres Biografie in Bezug auf die beschriebene Person ungelöst: Wie stellt man einen spröden und vielfach auch uninteressanten Charakter, der zudem im Verlauf seines Lebens durch die strukturellen Wandlungen des 19. Jahrhunderts zunehmend seiner Gestaltungsmöglichkeiten verlustig ging, angemessen dar? Auf diese Frage finden beide Biografien – allem Einsatz zum Trotz – keine Antwort. So bleibt schließlich festzuhalten, dass Michaela und Karl Vocelkas Darstellung Franz Josephs ein gelungener Versuch einer Lösung ist, in dieser Hinsicht aber eben auch unvollständig bleiben muss.

 

[1] Christopher Clark: The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914. London 2012; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München 2014.

[2] Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf 1967.

[3] Nun, materialreich, Gerrit Dworke: »Historikerstreit « und Nationswerdung. Ursprünge und Deutung eines bundesrepublikanischen Konflikts. Wien, Köln, Weimar 2015.

[4] Niall Ferguson: The Pity of War. London, New York 1998; vgl. ders.: Britain entering first world war was »biggest error in modern history«, <https://www.theguardian.com/world/2014/ jan/30/britain-first-world-war-biggest-error-niallferguson>, 30.1.2014.

[5] Michaela und Karl Vocelka: Sisi. Leben und Legende einer Kaiserin. München 2014.

[6] Pieter M. Judson: The Habsburg Empire. A New History. Cambridge, Mass. 2016; John Deak: Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War. Stanford 2015.

[7] Weitaus konventioneller etwa Manfred Berg: Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie. München 2017.

[8] Vgl. Lothar Höbelt, Thomas G. Otte (Hgg.): A Living Anachronism? European Diplomacy and the Habsburg Monarchy. Festschrift für Francis Roy Bridge zum 70. Geburtstag. Wien, Köln, Weimar 2010.

[9] Vgl. hierzu Ilse Reiter-Zatloukal: »… im Interesse der Sicherheit der Republik …« Zur Geschichte der »Habsburger-Gesetze«. In: Gedenkdienst 4 (2010), S. 1f.

[10] Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie. München 2015.

[11] Vgl. Timothy Snyder: On Tyranny. Twenty Lessons from the Twentieth Century. London 2017, S. 117–126.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 141–143.

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