Zum Inhalt springen
Start » Online-Artikel » Ausgaben » Ausgabe 2021.1 » Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Biografie | Rezension

Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Biografie | Rezension

PDF-Download

Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Biografie. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2020. 1102 S.

Von Georg Aescht

Hätte Schiller jene erahnt, die sich erdreisten, seine Worte auf Rednertribünen im Mund zu führen, er hätte sich die Unsterblichkeit genommen. Der das sagte, hat es an sich selbst vollzogen: Karl Kraus ist ein solch ehern unerbittlicher Gedanken- und Worteschmied (er hätte uns dieses Ornament wahrscheinlich verwiesen), dass es vermessen ist, es ihm unsterblichkeitshalber nachtun zu wollen. Diesem Meister und seinem Wort gegenüber lernt man Demut, und ihm selbst stand es stets fern, die gestrenge Lehrmeisterschaft abzumildern oder gar abzulegen. So einer stirbt schnell. War er doch ein Meister auch im Zerbrechen von Freundschaften. An uns ist es nicht, sie ihm zu kündigen, und da er es selbst nicht kann, bleibt sie bestehen.

Hier ist ein Buch, das diese platonische Beziehung auf elfhundert Seiten mit philologischer Akkuratesse und zugleich dem „Haupthelden“ angemessenem sprachlichen Glanz beschwört und be(ur)kundet. Verlag und Verleger sind augenscheinlich an die Leistungsgrenzen gegangen, Jens Malte Fischer aber gerät die Biografie zur ausgedehnten Feier – und denen, die ihr Lesevergnügen daran haben, zum Fest. Dass dies nicht zur Schwelgerei wird, dafür bürgt die atemberaubend anstrengende Stringenz der historischen und literarhistorischen Aufrisse Fischers und der Kraus’schen Zitate. Diese sind nie lediglich Illustrationen, sondern scharfe Diagnosen und Autopsiebefunde. Dabei ist die kleinste Form, der Aphorismus, die Petrischale, in der Kraus die Krankheiten seiner Welt und deren Erreger ent-deckt. Und nicht selten sind auch essayistische Texte nichts anderes als Ballungen solcher Sinnsprüche. „Die besondere Energie seiner Aphorismen basiert, wie sein ganzes Werk, auf dem unverhüllten Hass auf alles, was der Vorstellung vom Ursprung, der Sprache, der Menschlichkeit und den daraus abgeleiteten Maßstäben nicht entspricht“. (S. 926)

Hass! Das ist allerdings das Mindeste, was aus den Anwürfen dieses Mannes gegen andere Männer (auch Frauen) strahlt, und es sei erlaubt, just diesen Hass als höchst menschlich, human, ja humanistisch zu empfinden. Karl Kraus hasst nicht Menschen oder „den“ Menschen, vielmehr seine Entmenschlichung durch das, was er geschaffen hat, die „Gegenwart der Welt und ihres Theaters, welche wir, solange wir sie noch mitmachen müssen und dürfen, Widerwart nennen wollen“. (S. 918) Wer hätte es schon geschafft, in dem „Gegen“ das „Wider“ zu entdecken und so zu lesen, dass die Widerwärtigkeit darin aufscheint. Nur einer wie er, der sich ein verkehrtes Leben auferlegte, die Nächte durcharbeitete und seine Zeitschrift Die Fackel schließlich allein schrieb, denn da war keiner, der seinen Ansprüchen genügte. So stellte er sie schließlich nur noch an sich selbst.

Gewiss, er war böse, unerbittlich und ungerecht. Er hat Alfred Kerr, den namhaftesten deutschsprachigen Theaterkritiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, über Jahrzehnte mit einer „anthologischen“ Fehde überzogen, aber stets die Blößen bloßgestellt, die der sich selber gab: „Es ist mein Verhängnis, daß mir die Leute, die ich umbringen will, unter der Hand sterben“. (S. 687) Er hat einem ihm in nichts nachstehenden Sigmund Freud und dessen Zunft alle Schärfe seiner aphoristischen Kunst angedeihen lassen, weil er fand, psychoanalytisches Gründeln sei den Anforderungen der „großen Zeit“ nicht gewachsen, die wieder klein werden würde, wenn ihr dazu noch Zeit bliebe. Er hat Oswald Spengler nicht gerade feinsinnig den „Untergangster des Abendlandes“ tituliert, dafür in austriakischer Verzweiflung vor dem deutschen Gezücht der „Hakenkreuzottern“ dem Kanzler Dollfuß gleichsam das Wort geredet, wohl wissend, dass sein eigenes Schaden nehmen könnte.

So geschah es. Er rieb sich dermaßen auf in seinen Kämpfen, dass er der großen Herausforderung des 20. Jahrhunderts durch obengenanntes Natterngezücht mit offener Flanke gegenübertrat: „Nie hat sich ein Autor von solchem Format mit einem Beginn eines Textes solchen Schaden zugefügt wie Karl Kraus. Der so viel vorausgesehen hat, sah nicht voraus, dass der die Dritte Walpurgisnacht nach einer Zitatcollage aus der Goethe’schen Walpurgisnacht einleitende Satz ‚Mir fällt zu Hitler nichts ein‘ seit 1952, als der Text zum ersten Mal erschien, immer wieder gegen seinen Urheber gewendet worden ist, von Leuten, denen beiläufig entging, dass nach diesem Satz rund dreihundert Druckseiten folgten, in denen Kraus zu Hitler und den ‚Hakenkreuzottern‘ sehr viel eingefallen war, mehr als allen anderen zu diesem Zeitpunkt, nämlich zwischen März und September 1933“. (S. 808)

Und wie viel ihm auf- und dazu eingefallen ist! Kohorten von Schlaumeiern der achtundsechziger und späterer „Degenerationen“ (Krausens Süffisanz bezieht sich nicht auf diese, ist aber stets eine Wonne) haben Gottfried Benn und Martin Heidegger mal besser, mal schlechter verdächtigt und mal noch besser, mal noch schlechter verteidigt, sie seien irgendwie oder seien irgendwie doch nicht, na ja, damals, wir wissen schon … Die Feuilletons woll(t)en eben gefüllt werden. Dazu eignen sich Verdächtigungen und Ehrenrettungen, Spekulationen und Ausflüchte vortrefflich, denn: „Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen“. (S. 277)

Karl Kraus aber war solchem Kunsthandwerk keineswegs zugetan, er sah scharf, las genau, und schrieb umso schärfer: „Da ist etwa der Denker Heidegger, der seinen blauen Dunst dem braunen gleichgeschaltet hat und klar zu erkennen beginnt, die geistige Welt eines Volkes sei ‚die Macht der tiefsten Bewährung seiner erd- und bluthaften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung seines Daseins‘. Ich habe immer schon gewußt, daß ein böhmischer Schuster dem Sinn des Lebens näher kommt als ein neudeutscher Denker. […] Das Bekenntnis zu Blut- und Erdverbundenheit, mit dem sich jetzt diese abgründigen Worthelfer der Gewalt beeilen, könnte vielleicht an jene Gefahr der Verbindung denken lassen, die vielleicht nicht in der Philosophie, aber in der Medizin als Tetanus bekannt ist, und so wäre die Psychose auf einen nationalen Starrkrampfanfall zurückzuführen, dem alles ausgesetzt ist, was exerzieren und dozieren oder beides zugleich kann“. (S. 823) Und: „Benn ist sich ja keineswegs im Unklaren darüber, daß er es vor der Partei, deren Geistigkeit er vertritt, als Intellektueller nicht leicht hat, aber er scheint von der Hoffnung durchdrungen, daß entschlossener Fanatismus den Mangel wettmachen könnte“. (S. 829) Die „abgründigen Worthelfer der Gewalt“. Noch Fragen?

„Kraus dürfte der einzige Autor sein, dem es mit dem Hinweis auf einen Kommafehler gelang, den Ungeist des ‚Dritten Reiches‘ in der Nussschale eines Grammatikfehlers zu erkennen.“ (S. 950) Lange vor Victor Klemperers LTI lautet das Kraus’sche Verdikt: „Braunwelsch“ als Brutstätte der Phrase, die aus der Sprache erwächst und die Wirklichkeit verwuchert. „In allen Gebieten sozialer und kultureller Erneuerung gewahren wir diesen Aufbruch der Phrase zur Tat.“ (S. 834) Jens Malte Fischer eifert seinem Helden nach: „Kraus’ ins kaum Fassliche gesteigerte sprachliche Sensibilität reagierte auf alle falschen, verlogenen, verschleiernden, die Wahrheit verbiegenden Ober- und Zwischentöne. Den Gesamtklang dieser Misstöne nannte Kraus die Phrase. ‚Die Phrase ist das gestärkte Vorhemd vor einer Normalgesinnung, die nie gewechselt wird‘“. (S. 229) So kommt Fischer zu seinem erstaunlich dezidierten Urteil über die Dritte Walpurgisnacht: „der bedeutendste politisch-satirisch-polemische Text der deutschen Literatur und gleichzeitig auch der unbekannteste dieser Art“. (S. 838)

Wer aber liest ihn? Wer kann die nachgerade athletische Verbissenheit dieses keineswegs athletischen Mannes mit einer Schiefstellung der rechten Schulter ermessen, die umso schmerzlicher wird, je näher ihm die Menschen stehen, die durch ihr Versagen zu Gegnern werden? Ehemals geschätzte, ja verehrte Schriftsteller begaben sich in jener zweiten „großen Zeit“ vor dem Zweiten Weltkrieg, die noch nicht einmal Karl Kraus als gar so „groß“ erahnt haben dürfte, ihrer Souveränität: „Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr Eintritt in den Journalismus. Hier steht ein Hauptmann, stehen die Herren Dehmel und Hofmannsthal mit Anspruch auf eine Dekoration in der vordersten Front, und hinter ihnen kämpft der losgelassene Dilettantismus“. (S. 297f.) Den Offenbarungseid der neuen deutschen Literatur, Kraus leistet ihn, weiß aber ein Tröpfchen Trost: „Auf jeder Seite Nestroys stehen Worte, die das Grab sprengen, in das ihn die Kunstfremdheit geworfen hat, und den Totengräbern an die Gurgel fahren. Voller Inaktualität, ein fortwirkender Einspruch gegen die Zeitgemäßen. […] Ein niedriges Genre, so tief unter der Würde eines Historikers wie ein Erdbeben“. (S. 899) Das stelle man sich vor: Unter der Würde (eines Historikers) liegt ein Erdbeben – ein Bild, das alles ins Wanken bringt, schon bei Voltaire.

Nicht ausgeklammert bleiben bei Jens Malte Fischer die Grauzonen und Schattenstellen im Tun und Treiben der Wiener Bohème um die und nach der Jahrhundertwende, keine Aureole klassischer Moderne (die als Beleuchtungskörper eh schlecht tauge, sagt Fischer) schützt einen Peter Altenberg oder einen Adolf Loos vor Mutmaßungen, sie hätten erotische Altersgrenzen unterschritten, was damals üblich gewesen sein soll:  „[…] und es bleibt auch beim unerbittlichen Richter Karl Kraus ein dunkler Winkel zu registrieren, den man einigermaßen vorsichtig mit dem Wort ‚Befangenheit‘ (in der Person und vielleicht auch in der Sache) umschreiben kann“. (S. 455)

Unbefangenheit dürfen wir uns nicht erlauben angesichts der Unwägbarkeiten jener Welt, ersprießlicher, ja erbaulich fast hingegen ist die Feststellung, dass wir in Karl Kraus jemanden haben, der vor rund hundert Jahren so vieles wusste und in Worte fasste, woran wir heute laborieren und morgen noch laborieren werden. Wir sind nicht allein in unserer hartnäckigen Untröstlichkeit, seit hundert Jahren nicht: „Es ist meine Religion zu glauben, daß Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr soviel Geist gekostet hat, daß ihr keiner mehr blieb, sie zu nützen“. (S. 96) Da muss man innehalten und Atem holen.

Apropos Religion: 1972 erscheint in der DDR ein Buch mit folgenden Kraus’schen Sätzen über den Kommunismus: „[…] der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen und alle andern zu deren Bewahrung […] an die Fronten des Hungers und der vaterländischen Ehre treiben möchten“. (S.  83) Und im Weiteren (denn selten ist einem gegeben, die Macht der Sprache derart zu erspüren): „Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr aus und ein weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der ausschließlich Genußberechtigten, die da glaubt, daß die ihr botmäßige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck zu Bett gehe!“ Zum Niederknien! Selbst die DDR-Zensur hat sich offenbar in Andacht geübt.

Elfhundert Seiten reichen nicht aus, auch das lyrische und dramatische Werk des „Widersprechers“ gebührend zu würdigen, nur den Letzten Tagen der Menschheit widmet der Biograf knappe Elogen. Hier muss als Tropfen aus dem unerschöpflichen Reservoir an Bildern, Mono- und Dialogen von der Front und der „Heimatfront“ des Ersten Weltkriegs eine Szenenanweisung genügen, in der denkbar lapidar das steht, was schon jener scheinbar weit zurückliegende Krieg mit der Welt gemacht hat: „Es regnet von unten“. (S. 316) Es regnet immer noch, auch hundert Jahre danach.

700 Auftritte als Vorleser und Vorsänger hat Karl Kraus über die selbstauferlegte Fron am Schreibtisch hinaus im damals bis Czernowitz reichenden deutschsprachigen Raum bestritten, mit seinem – ohne Mikrophon – bis zu 2.000 Hörer fesselnden Tenor und eigenen, aber auch Texten ihm nahestehender Autoren. Er nannte es „Theater der Dichtung“ und sah darin eine Sühne für die Gewalt, die den Stücken im neuen Burgtheater angetan wurde. „‚Mein Hang, alles niederzureißen, was mir über den Weg kommt, hat mich bekanntlich in den letzten Jahren dazu verführt, mein Wirken für ein Theater der Dichtung, das Shakespeare, Goethe, Gogol, Nestroy, Raimund, Hauptmann und Wedekind umfaßte, auf Offenbach auszudehnen, welchen ich für den überhaupt größten satirischen Schöpfer aller Zeiten und Kulturen erachte.‘ Ein größeres Lob konnte der andere größte satirische Schöpfer aller Zeiten und Kulturen nicht aussprechen.“ (S. 539) In den letzten Jahren konzentrierte er sich dabei auf drei Themen: sein ureigenes, Sprache und Sprachlehre, das Werk von Offenbach und dessen szenische Verlebendigung sowie Shakespeare. Er wurde wesentlich.

Man findet des Zitierens kein Ende, mitnichten jedoch ist dieses Buch zu dick geraten. Vielmehr ist es ein nicht nur viele Seiten starker und stark beschämender Beleg dafür, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die Geschichte und Kulturgeschichte mit Eifer jene vergisst, die ihnen die Leviten lesen und schreiben. Hier ist noch eine besonders schmerzliche Vermisstenanzeige eines, den man ebenso schmerzlich vermisst: „Ein in seiner Lakonik beklemmender Satz findet sich in einem kaum beachteten Brief, den Walter Benjamin Anfang Juni 1939 an Brechts Mitarbeiterin Margarete Steffin aus Paris schrieb. Als Postskriptum fügt er an: ‚Karl Kraus ist denn doch zu früh gestorben. Hören Sie: Die Wiener Gasanstalt hat die Belieferung der Juden mit Gas eingestellt. Der Gasverbrauch der jüdischen Bevölkerung brachte für die Gasgesellschaft Verluste mit sich, da gerade die größten Konsumenten ihre Rechnungen nicht bezahlten. Die Juden benutzten das Gas vorzugsweise zum Zweck des Selbstmords.‘“ (S. 993). Hören Sie.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 96–100.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest
0 Comments
Inline Feedbacks
View all comments