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Ilma Rakusa: Kein Tag ohne | Rezension

Corona, unter anderem

Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Gedichte. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 2022. 247 S.

 

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Von Klaus Hübner

Am 22. Oktober 2020 notiert die in der Slowakei geborene, mit zahlreichen bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnete Zürcher Schriftstellerin, Essayistin, Literaturkritikerin und Übersetzerin Ilma Rakusa: „Die Sonne ist nicht eckig geworden / sie scheint noch / die Blätter fallen / steigend nur die Corona-Zahlen“ (S. 7). Damit ist ein Hauptthema ihres jüngsten Buchs angeschlagen, das Gedichte versammelt, die von jenem Herbsttag an bis zum 22. Februar 2022 entstanden sind. Der Buchtitel Kein Tag ohne ist zwar nicht ganz wörtlich zu nehmen, doch eine Art lyrische Chronik dieser noch nicht so lange zurückliegenden Monate bietet der Band allemal. „Maskenzauber vergiss es / hygienisch taumeln wir durchs Leben / mit Mundschutz Abstandsregeln / total desinfiziert / emotional kastriert / Zombies in viralen Zeiten / kurz davor in Wahnsinn abzugleiten / ach Maskenspiel das anderes meinte: / Verwandlung“ (S. 112). Es waren ja nicht nur Pandemie-Monate, „gelockdownte Zeit“ (S. 100), sondern auch Zeiten, in denen sich die Weltpolitik erheblich veränderte, und das gewiss nicht zum Besseren. Die Texte sprechen auch von der Rückeroberung Kabuls durch die Taliban, der brutalen Niederschlagung der Demokratiebewegung in Belarus, den Gewaltmaßnahmen gegen die Uiguren im Westen Chinas, den Entwicklungen in Myanmar oder Kasachstan, dem Aufmarsch russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine und anderen Geschehnissen, und deshalb ist es sicher richtig zu sagen, dass Kein Tag ohne auch Ilma Rakusas bisher politischstes Buch ist. Die Fakten sind bedrückend, die Aussichten sind es auch: „[…] ich liege / lausche / in Vorahnung von Karambolagen“ (S. 93). Dass ihre der Chronologie nach angeordneten Gedichte noch viel mehr zu bieten haben, deutet die Autorin selber an: „Es sind spontane Notate, Traumprotokolle, Reflexionen über Bilder, Lektüren, politische Ereignisse und pandemische (Ver-)Stimmungen“ (S. 239).

Ilma Rakusas filigrane, immer konkret im Hier und Heute verankerte Sprachgebilde leben, wie das schon in ihrem Band Impressum: Langsames Licht (2016) zu beobachten war, vor allem durch ihren Rhythmus – ein lyrisch-musikalisches Dauer-Parlando, das, manchmal verspielt und manchmal verängstigt, den Tagen eine eigenwillige und feinsinnige poetische Form gibt. Was die Sprache des Bandes betrifft, darf man sich gelegentlich an Dichter erinnert fühlen, die normalerweise nicht mit Ilma Rakusa in Zusammenhang gebracht werden, an den späten Jürgen Becker etwa, an Nicolas Born oder Rolf Dieter Brinkmann. Sinnliche Naturbilder, ephemere Augenblicks-Eindrücke werden sprachzauberisch eingefangen, zum Beispiel am 16. Januar 2021: „Schneetaifun Frau Holle / die Straßen gleichen Pisten / wo bleibt der Elch / ich hisse Friedensfahnen / in Kleinsibirien / am Zürichberg“ (S. 59). Die geistige Präsenz von literarischen Begleiterinnen und Kollegen verwandelt sich in souverän gebaute Verse – Marina Zwetajewa, Ilse Aichinger, Friederike Mayröcker, Elke Erb, Thomas Kunst, Clemens J. Setz, Serhij Zhadan und andere Künstlerinnen und Künstler hinterlassen ihre Spuren. Es finden sich Gedichte wie Aichingers grüner Esel mit den Anfangszeilen „Kleist Moos Fasane / wieder folge ich ihren Schlängelpfaden“ (S. 62), oder Marina grüßt von fern, das wie folgt beginnt: „Zwetajewa / sie twittert nicht / sie ist weit oben / beim Herrn vielleicht“ (S. 72). Immer wieder schmerzhaft spürbar wird die Trauer über unwiederbringliche Verluste, vor allem auch über Menschen, die der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts zum Opfer fielen: „Was bleibt von den Toten? / von Großmutters Bruder / der mit neunzehn fiel / an der Galizischen Front?“ (S. 33). Mit der Trauer um Verlorenes verbindet die kosmopolitische Mitteleuropäerin und eminente Osteuropa-Expertin Ilma Rakusa die Sehnsucht nach einem einigermaßen intakten Europa – heute lebe man eher auf einem „abgedroschenen Kontinent / der sich vor Viren fürchtet und / Wirren obendrein“ (S. 14). Das muss man als Feststellung lesen und nicht als billige Klage. „Lamentos bleiben außen vor / es gibt kein Siegen / es gibt Gelingen manchmal in den kleinen Dingen / wenn eine Silbe zu der anderen passt als wär es Liebe“ (S. 14).

Zu einem gelungenen Tag gehört gewiss auch die Freude an der Enkelin Ella – die nett gemeinten, verniedlichenden Verszeilen, die ihr gelten, zeigen Ilma Rakusa allerdings nicht unbedingt als versierte Lyrikerin. Man könnte die „mit keckem Näschen“ ausgestattete Ella (S. 89) zu den kleinen Dingen rechnen, aber sie sorgt für Freude in der Tristesse, und das ist viel. Denn über die großen Dinge, über’s Weltgeschehen, kann kaum Freude aufkommen. „[…] es hagelt Schmerz / aus allen Nachrichtenkanälen / zu viel auf einmal“ (S. 20). Was kann man tun? Kann man überhaupt irgendetwas tun? Ist man dem Lauf der Zeiten einfach ausgeliefert? „Sie sagt: ich will / Sie sagt: ich kann / Sie sagt: ich vertraue meinem Immunsystem / Ich sage nichts“ (S. 15). Was beim Registrieren eigener Befindlichkeiten und beim Nachdenken über Pandemie, Terrorismus und Krieg nahezu unvermeidlich ist, ist die Angst, und sie erscheint hier als ständige Begleiterin der wechselvollen Zeitläufte, deren Signum „Bitterkeit“ heißt (S. 106). „Angst hält mich in Schach / ach / die Nieren“ (S. 28). Der Tod ist präsent, auch wenn das Leben scheinbar unaufhörlich weitergeht: „Die Risse sind nicht ahnbar / bis sie plötzlich da sind / zack / das Leben sich teilt in / Davor und Danach“ (S. 179). Eine erlösende Alternative ist nicht in Sicht, auch und gerade für Poetinnen und Dichter nicht. „Gedicht, du schaffst es nicht / die Welt zu verändern“ (S. 124). Aber es gibt die Sprache, man kann mit ihr spielen, und dann ist doch eine Veränderung in der Welt, wenn auch nur eine winzige – siehe die poetische Reflexion Was sind Grenzen, in der es heißt: „Grenzen also / die Wahrheit ist: / nie werd ich mich an sie gewöhnen / g wie grausam / r wie rau / e wie eng / n wie nötigend / z wie zähmend / e wie eisern / n wie nebulös“ (S. 204).

In den Wochen vor dem 24. Februar 2022 geraten die Nachrichten aus der Ukraine immer unabweisbarer ins Blickfeld – eine ungeheuerliche Zeitenwende bahnt sich an: „[…] ein düsterer Autokrat / mit Allmachtsphantasien / der Ukraina beim Wort nimmt: / Grenzland auf Russisch“ (S. 220). Ilma Rakusa hat ihren Gedichten sogar noch ein von schierem Entsetzen geprägtes Postscriptum angehängt, datiert auf den 26. Februar 2022. Fassungslos verfolgt sie das Geschehen, und ihre Fragen sind die Fragen aller Menschen, nicht nur in Europa: „[…] Bestien der Grausamkeit / sind das Brudermanieren? / dieser Hass im Großformat?“ (S. 234). Man weiß und man spürt: Seit 2020 ist die Welt eine andere geworden, und fast unmerklich haben auch wir uns verändert. Diesen Prozess anhand der Gedichte von Ilma Rakusa zu reflektieren und den jüngst vergangenen Monaten mithilfe ihrer Lyrik nachzuspüren, sei nachdrücklich empfohlen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 257–259.