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Matthias Buth: Seid umschlungen | Rezension

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Kompendium von brennender Aktualität

Matthias Buth: Seid umschlungen. Feuilletons zu Kultur und Zeitgeschichte. Berlin: Vorwerk 8 2017. 296 S.

Von Petro Rychlo.

Dieses Buch ist ein Kompendium erstaunlicher Bildung des Verfassers, eine Enzyklopädie bewanderten Wissens in vielen Bereichen des menschlichen Geistes. Beeindruckend ist der Reichtum von geistigen Segmenten, die hier behandelt werden: Politik und Geschichte, Religion und Kultur, Ethik und Recht, Identität und Sprache, Literatur und Musik … 46 Texte diverser literarischer Gattungen von Matthias Buth – einem aus Wuppertal-Elberfeld stammenden und heute in Honungsthal lebenden Dichterjuristen und Publizisten –, die in den letzten 13 Jahren (von 2004 bis 2017) geschrieben und in verschiedenen Funk- und Printmedien veröffentlicht wurden: Aufsätze, Essays, Polemiken, Skizzen, Rezensionen, Reiseberichte, Kommentare wurden unter dem Titel Feuilletons zu Kultur und Zeitgeschichte zusammengefasst und sind von brennender Aktualität.

Matthias Buth wirft provozierende Fragen auf, deren Antworten eine intellektuelle Reise in die Tiefen des jeweiligen Problems anbieten, bei der sich immer neue Perspektiven öffnen: Was ist des Deutschen Vaterland? Wie kann man über Deutschland schreiben, ohne dabei pathetisch zu werden? Kommt den deutschen Politikern das Wort »Deutschland«, getragen vom Vierklang des Streichquartetts Joseph Haydns, noch problemlos über die Lippen? »Buth deutet Vergangenheit aus der Gegenwart und nutzt seine Kenntnisse der Vergangenheit, um die Gefährdung und Brüchigkeit unserer Welt und unserer Zeit bewusst zu machen« (S. 10), schreibt der Berliner Historiker Peter Steinbach in seinem Vorwort zum Band. Das ist durchaus richtig, denn die meisten historischen Exkurse sind hier eher Resonanzklänge der Gegenwart.

Politische Realien Deutschlands stehen im Vordergrund und werden am häufigsten beschworen, ob es um die deut-sche Nationalhymne oder Reiner Kunzes Deutschland-Bild geht, um die Besprechung einer Biografie des Ex-Kanzlers Helmut Schmidt oder um das Begehen der Schiller-Jubiläen. Mehrmals wird in diesem Buch eine Zeile aus Paul Celans Todesfuge zitiert: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland« (S. 28, 179). Für Buth klingen im Wort »deutsch« kein Waffenrasseln mehr, keine imperialen Ambitionen nach. Er will Deutschland vor allem als eine »europäisch gewachsene Kulturnation« (S. 27) verstanden wissen, für die die Ideale der Freiheit, Humanität und Demokratie unentbehrlich geworden sind.

Ein anderes aktuelles thematisches Spektrum dieser Textsammlung bildet das Problem der muslimischen Integration in Deutschland – religiöse und sittliche Traditionen des Islam, die Ideologie des muslimischen Terrorismus, die soziale und familiäre Lage muslimischer Frauen und die ersten Anzeichen ihrer Emanzipation. In den letzten Jahren haben sich diese Fragen mit besonderer Schärfe auf vielen Ebenen zugespitzt, daher verlangen sie eine neue Sicht und neue politische Entscheidungen.

Ein gutes Dutzend der Aufsätze seines Buches widmet Buth Osteuropa, das er im Lauf der Jahre durch zahlreiche Reisen kennengelernt hat. Sein Konzept von Osteuropa (Ostmitteleuropa) entwickelt er in Anlehnung an den großen Philosophen Johann Gottfried Herder, der seinerzeit in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791) darauf verwies, dass Kulturen verschiedener Völker eigenständig und einmalig sind und bei ihren gegenseitigen Kontakten einander enorm bereichern können. Im Sinne dieser humanistischen Ausführungen präzisiert und aktualisiert Buth die Ideen Herders: »Je besser also ein Tscheche seine Sprache beherrscht, je literarischer er also damit umgehen kann, desto europäischer wird er sich öffnen. Je rumänischer gedichtet wird und je mehr Kunst das Ergebnis ist, desto besser für Europa« (S. 176). Von diesem Standpunkt aus betrachtet er die Eigenart osteuropäischer Völker und entfaltet ein buntes Kaleidoskop ihrer Kulturtraditionen und Volkssitten sowie deren Rezeption im deutschsprachigen Kulturraum.

In der Zeit des Vormärz, heißt es, hielten die Deutschen ihre Nachbarn, die Polen, geradezu für »die edelste Nation auf Gottes Erden« (S. 179), denn in den polnischen Aufständen der Jahre 1830/31 erkannten viele ihre eigenen verborgenen Wünsche. »Deutsche Polenbegeisterung« (so der Titel eines Aufsatzes, S. 179–186) spiegelte sich musterhaft in der deutschen Dichtung wider – in den Gedichten von Christian Friedrich Daniel Schubart, August von Platen, Zacharias Werner, Johann Gottfried Seume, Karl von Holtei, Adelbert von Chamisso, Gustav Schwab, Justinus Kerner, Ludwig Uhland, Heinrich Heine, Christian Dietrich Grabbe, Annette von Droste-Hülsho, Nikolaus Lenau, Emanuel Geibel, Franz Grillparzer, Georg Herwegh u. a. Im Kölner Dom liegt die polnische Königin Richeza, die Ehefrau des polnischen Königs Mieszko II., begraben und im Ausdruck »Jeder zweite Berliner ist ein Schlesier« äußert sich die historische Nähe beider Völker.

Man spürt: Der Autor kennt und liebt Osteuropa, er findet für osteuropäische Länder zärtliche Beschreibungen wie »Rumänien ist eine weiche Harfe« (S. 117–179). Er charakterisiert es als »eines der schönsten Länder Europas, durch das die Seelenachse des Exils verläuft« (S. 178), da die damalige römische Kolonie Tomis (heute die rumänische Stadt Constanța) der Verbannungsort des berühmten Dichters Ovid war. Böhmen ist für ihn »ein sanftes Gedicht«, das »dem Himmel nah« (S. 214) liegt, und die Moldau nennt er in einem hier veröffentlichten Brief an die tschechische Germanistin Ingeborg Fialová-Fürst einen Fluss, der »in uns« mündet (S. 214).

Buth bespricht auch die voluminöse, von Manfred Jähnichen und Nikola Strajnic herausgegebene Anthologie serbischer Lyrik Das Lied öffnet die Berge (Novi Sad 2004), die 82 serbische Dichter des 20 Jahrhunderts vorstellt (»Der Himmel im Auge«, S. 215–220), oder er schwärmt von der Ukraine, die ihre Unabhängigkeit gegen das imperiale Russland aufopferungsvoll verteidigt. »Ukraine! Welch’ weicher Name, eine weibliche Bezeichnung für einen Staat, der uns ganz nah ist, ja, täglich näher kommt« (S. 164). In all diesen Aufsätzen tritt er als fachkundiger Experte und feiner Kenner osteuropäischer Zustände auf.

Eine Reihe von Texten hat sozusagen einen »monografischen« Charakter und widmet sich einzelnen Repräsentanten der deutschen Literatur – den Dichtern Jakob van Hoddis, Yvan und Claire Goll, Else Lasker-Schüler, Max Herrmann-Neisse, Rose Ausländer, Olly Komenda-Soentgerath, Jiří Gruša, dem exzellenten Übersetzer Karl Dedecius oder dem bekannten Germanisten Walter Hinck. Lakonisch und mit sparsamen bildlichen Mitteln entwirft Buth die Porträts dieser Autoren – mit manchen von ihnen verbanden oder verbinden ihn persönliche Beziehungen, z. B. mit Reiner Kunze, was seine Essays lebhafter und überzeugender macht.

Zudem öffnet uns Buths Sammlung noch eine unerwartete Sphäre, die dem Autor offensichtlich besonders am Herzen liegt und ihn als fundierten Musikkenner ausweist. Abschließende Essays und Aufsätze sind tiefschürfende musikwissenschaftliche Miniaturen – mit viel Verständnis für die musikalische Materie und bewunderungswürdiger Akribie geschrieben. Es geht hier um den israelischen Komponisten Abel Ehrlich, eine feinfühlige Analyse von Robert Schumanns poetischem Zyklus »Bilder aus dem Osten« für Klavier zu vier Händen, biografische Notizen zum Werk von Johannes Brahms oder das in einem Kriegsgefangenenlager (Stammlager VIII A in Görlitz) geschaffene »Quartett für das Ende der Zeit« des französischen Komponisten Olivier Messiaen. Aber auch in manch anderen Aufsätzen sind musikalische Reminiszenzen reichlich verstreut – über Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und Franz Schubert, Richard Wagner und Franz Liszt, Leoš Janáček und Viktor Ullmann. Als pars pro toto kann hier z. B. die eindringliche Analyse von Schuberts Liederzyklus »Winterreise« gelten (»Mut und Mündigkeit«, S. 49–56). Musik ist eine unsichtbare Achse des Buches, sie verbindet diese so verschieden intonierten, thematisch manchmal weit auseinanderklaffenden Texte zu einem harmonischen Akkord.

»Ein Buch ist projizierte Welt, destilliert aus den Erfahrungen des Autors«, sagte Matthias Buth einmal in einem Interview. Diese Worte würden auch den besprochenen Band gut charakterisieren – hier wurden seine Erkenntnisse und Erlebnisse, gesammelt in verschiedenen Bundesministerien sowie im Kanzleramt, wo er längere Zeit als Justiziar des Kulturstaatsministeriums tätig war, in eine verbale Form gegossen und sprachlich verdichtet. Dazu trugen auch »seine stupende Belesenheit und sein präziser Umgang mit der deutschen Sprache« bei (Peter Steinbach, S. 9). Man erfährt aus seinem Buch nicht nur viel Neues – man genießt seinen reichen Wortschatz und die stilistische Sicherheit. Logische Überzeugungskraft und Klarheit seiner Sprache sind wohl an der rhetorischen Kunst großer Meister der Eloquenz geschult, die er als ausgebildeter Jurist beherrscht.

Obwohl die meisten Beiträge thematisch geordnet sind und in diesen thematischen Gruppen grundsätzlich einheitlich wirken, bricht die Disparität des Materials an einigen Stellen dennoch durch. Vielleicht hätte bei der gegebenen Fülle der Texte eine strengere Auswahl getroffen werden müssen. So würde der längere Artikel »Staat und Politik. Carl Schmitt und die deutschen Grenzöffnungen von Schabowski bis Merkel« (S. 90–101) eher in eine juristische Fachzeitschrift passen.

Dem Verlag muss vorgehalten werden, dass der Satz viel zu dicht ist, die Texte ohne deutliche Zäsuren durchgehend aneinandergereiht sind – manchmal lässt sich nur schwer feststellen, wo der eine Aufsatz endet und der andere beginnt. Es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, jeden Text auf einer neuen Seite beginnen zu lassen. Auch bibliografische Quellenangaben über die im Buch publizierten Beiträge hätten nicht geschadet, genauso wie ein Namensregister, das in diesem Buch mit Hunderten erwähnten und zitierten Personen den Überblick erleichtern würde.

 

Zuerst erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 225–228.

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