Exil – Heimat – Erinnerung
Gabriela Adameșteanu: Begegnung. Roman. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Klagenfurt: Wieser Verlag 2018. 302 S. Von Anke Pfeifer
Exil – Heimat – Erinnerung: Das sind die großen Themen dieses Romans. Aber er erzählt ebenso von Familie und zwischenmenschlichen Beziehungen, wobei er ein genaues Licht auf das Leben Mitte der 1980er-Jahre in Rumänien wirft.
Der Titel Begegnung (rumänische Fa-sung: Întâlnirea, 2003) verweist, im Singular gebraucht, auf ein einzelnes Zusammentreffen. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Vielzahl von Begegnungen. Das Hauptereignis, auf das sich fast alle anderen Handlungsmomente beziehen, stellt der Besuch des Wissenschaftlers Traian Manu in seinem Geburtsland Rumänien dar, das er mehr als vier Jahrzehnte zuvor wegen eines Studienaufenthaltes verlassen hatte. Aus verschiedenen Gründen konnte bzw. wollte er später nicht mehr zurückkehren. Nun folgt er einer Einladung und hält einen Vortrag. Darüber hinaus bietet sein Aufenthalt in Rumänien Gelegenheit für verschiedene Treffen und Gespräche mit ehemaligen Kollegen, vor allem jedoch mit Verwandten und Bekannten, aber auch mit Unbekannten, die ihn mit ihren Anliegen bedrängen. Zudem träumt sich Traian Manu bei Autofahrten mit seiner Frau Christa durch seine Wahlheimat Italien – eine weitere Erzählebene des Romans – in die Vergangenheit und schildert ihr dabei seine Erwartungen an die bevorstehende Reise bzw. nach der Rückkehr seine dortigen Erlebnisse und die dadurch wachgerufenen vielfältigen, aber bruchstückhaften Erinnerungen an seine Jugend. Zu Beginn warnt Christa ihn vor dieser Reise in das Land unter einer Diktatur und später vor den Folgen aufwühlender Erinnerungsarbeit. Dazu berichtet sie ihm in einem separaten Erzählstrang von der Qual ihrer eigenen Rückschau auf Kindheit und Jugend, die sie in Deutschland während des Nationalsozialismus und des Krieges verbracht hatte, denn das Erleben von Elend und Tod verfolgt sie in Form von Albträumen bis in die Gegenwart.
Folie für die Heimreise des alten Mannes, die auch eine Rückkehr zu seinen Wurzeln bedeutet, ist Homers Odyssee, die Gabriela Adameșteanu in den drei großen Abschnitten des Romans – »Abschied«, »Zu Hause« und »Rückkehr« – produktiv verarbeitet: So mutiert Traian Manu zwar zu Odysseus, Penelope aber ist nicht Christa, sondern die in Rumänien gebliebene, von Traian einst geliebte Ana, von der Familie liebevoll Omi genannt. Interpretiert wird der Odysseus-Mythos von der Schriftstellerin zudem mit Bezug auf Mircea Eliades Auffassung, dass jeder Emigrant, der eigentlich von den »Mächten« verurteilt ist, in der Ferne zu leben, den Sinn seiner Irrfahrten nach Hause und zu sich selbst mit all ihren Hindernissen als Initiation verstehen müsse.
Traian Manus obsessive Reflexionen über seine Erlebnisse illustrieren seine tiefe Verunsicherung angesichts der vorgefundenen – übrigens hervorragend geschilderten – zeitgenössischen Verhältnisse in Rumänien, das Misstrauen gegenüber den Menschen dort, die Enttäuschung über das beiderseitige Fremdsein, sein Unverständnis, ja die Scham angesichts des Verhaltens der Landsleute bis hin zu Verzweiflung und Gewissensbissen wegen seines Weggehens damals. Und Christas Warnungen erweisen sich auch hinsichtlich der erfolgten und noch weiter geplanten Observierung durch den rumänischen Geheimdienst Securitate als allzu berechtigt.
Endlich ist Gabriela Adameșteanu der Durchbruch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt gelungen. Lange zierten sich die Verlage, ihre Romane, die bereits in zahlreiche andere Sprachen übertragen wurden – u. a. ins Französische, Englische, Italienische, Spanische, Ungarische, Bulgarische –, zu veröffentlichen. Vermutlich waren bei den Entscheidungen hiesiger Verleger Vorurteile gegen eine vor 1989 verfasste Literatur, die nicht selten unter dem Generalverdacht ideologischer Vereinnahmung steht, mit im Spiel. Lange Zeit war die Schriftstellerin nur mit Erzählungen oder Essays in Anthologien oder Zeitschriften (Sinn und Form) vertreten. 2003 wurde schließlich vom Schöffing-Verlag Der gleiche Weg an jedem Tag in der Übersetzung von Georg Aescht herausgebracht und machte offenbar den Weg frei für die nachfolgenden Romane. 2018 erschien neben Begegnung gleich noch ein weiterer Roman, Verlorener Morgen, sodass nun auch hierzulande das literarische Panorama Rumäniens im 20. Jahrhundert, geschaffen von einer der wichtigsten Stimmen der rumänischen Literatur der letzten Jahrzehnte, zum größten Teil vorliegt. An Begegnung hat Gabriela Adameșteanu lange gearbeitet – ab 1985 und in Abständen immer wieder, zuletzt 2013 –, sodass der Roman in Rumänien in mehreren, wiederholt durchgesehenen und veränderten Auflagen erschienen ist. Die vorangestellte Widmung »Meinem Onkel, dem Archäologen Dinu Adameșteanu, der, ohne es (von mir) zu wissen, mein Leben aus der Ferne geprägt hat« verweist darauf, dass die Autorin autobiografischen Impulsen nachgegeben hat.
Der Roman funktioniert als Zeitspiegel, der das Leben im Land Ceaușescus literarisch dokumentiert: die Lebensart der Rumänen, ihr zwangsweise abgekapseltes Dasein, ihre Sehnsucht nach der Ferne, nach einem freieren und reicheren Leben mit westlichem Konsum, die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Gesellschaft, ebenso Unwissenheit, Tabus, Sprachlosigkeit als Ursachen für Missverständnisse und Konflikte – auch bei den Begegnungen mit dem Emigranten. Einen beträchtlichen Part nimmt die Darstellung vielfältiger Überwachungsmaßnahmen durch die Securitate und das vielgestaltige Spitzelgeflecht innerhalb der Bevölkerung ein.
Der Text lässt sich über die konkrete historische Ebene hinaus grundsätzlich als Auseinandersetzung mit dem Thema Auswanderung lesen, einer prägenden Lebenserfahrung, die den Exilierten stets zwischen zwei Welten geraten lässt: Weder kann er von der Heimat endgültig lassen, denn die Erinnerung holt ihn immer wieder ein, noch ist er im Ankunftsland – hier Italien – richtig zu Hause. Er bleibt der »Fremde«, er sieht das Leben hier wie dort mit einem »anderen« Blick. Auch wenn dies eine belastende Situation ist, weitet sich andererseits so die Perspektive, die prinzipiell auch einen Einblick in sowie einen Vergleich von Denk- und Handlungsweisen der Menschen unterschiedlicher Kulturen gestattet. Traian Manu erlebt seine Situation aber eher als Belastung denn als Gewinn.
Vor allem die erste Hälfte des Romans liest sich nicht leicht, da die Biografien der Personen und ihre Beziehungen zueinander im Lauf der Lektüre erst nach und nach erschlossen werden können. Verwirrend sind die zahlreichen Stimmen in Monologen, Dialogen und (Alb-)Träumen, die das Geschehen aus verschiedenen Blickwinkeln widersprüchlich kommentieren bzw. teils unzutreffende Ansichten über Traian und andere Personen offenbaren, so zum Beispiel über Omi, Traians Jugendliebe Ana, die kurz vor seiner Ankunft verstorben ist. Eine besondere Rolle spielt der Chronist Daniel als handelnde und berichtende Figur. Er ist ebenfalls auf der Suche nach sich selbst – nicht zuletzt in Konfrontation mit Traian. Securitate-Dokumente und Spitzelberichte, mitunter fehlerhaft, zeugen von der umfassenden, dabei uneffektiven und völlig unsinnigen Überwachung des ausländischen Gastes und seiner Kontaktpersonen. Ebenso rasch wie die Erzählstimmen wechseln die Handlungs- und Zeitebenen. Aber vielleicht unterstreicht gerade dieses schwer zu durchschauende Geflecht von Äußerungen den Charakter von Erinnerungen, die oftmals nicht eindeutig sind, zudem sprunghaft und ungeordnet auftauchen.
Ob Traian Manu die ihm auferlegte Prüfung als solche begreift, sie besteht? Gabriela Adameșteanu hat mit seiner Geschichte – in der gewohnt guten und flüssigen Übersetzung von Georg Aescht – auf jeden Fall ein wichtiges Werk vorgelegt, das eindringlich, komplex und sehr kunstvoll ein historisch konkretes, zugleich gesellschaftlich aktuelles, ja eigentlich zeitloses Phänomen erörtert: Identitätssuche, Ver- und Entwurzelung als eine tragische Dimension der conditio humana: »Wer kann schon sagen, welches dein wahres Leben, deine wahre Heimat ist?« (S. 220).
Zuerst erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 221–223.