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Rezension Georgi Gospodinov: 8 Minuten und 19 Sekunden

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Die Melancholie als Realität der Apokalypse

Georgi Gospodinov: 8 Minuten und 19 Sekunden [I vsičko stana luna. Plovdiv: Žanet45 2013]. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Graz: Droschl Verlag 2016, 141. S.

Von Thomas Frahm

In deutschen Gesprächen über Bulgarien geht es oft um das, was dort nicht geht – faktologisch –, oder um das, was dort besser nicht gehen sollte – moralisch-politisch. Dabei gehen dort manchmal auch gute Dinge, die man sich im deutschen Sprachraum eher nicht vorstellen kann. In Deutschland zum Beispiel wäre es – obwohl nach dem Erlahmen des modernistisch-avantgardistischen Furors in den 1980er-Jahren auch hier zweifellos eine Annäherung zwischen U- und E-Kultur und damit eine Aufwertung klassischen Erzählens stattgefunden hat – wohl höchst ungewöhnlich, dass ein reflektierter Autor mit akademisch-intellektualistischem Hintergrund und experimentell-narrativem Vordergrund wie Georgi Gospodinov nicht nur anspruchsvollen Lesern, sondern auch breiten Bevölkerungsschichten so bekannt wird, dass aus einem Band mit Kurzgeschichten und kürzeren Erzählungen ein Film entsteht, bei dem sechs Regisseure je einen Text inszenieren. Genau das nämlich ist Georgi Gospodinov mit dem letzten wichtigen, hier vorzustellenden Erzählband geschehen. Produzenten waren das Bulgarische Nationalfernsehen und VIP Media Film, die Premiere fand im März 2018 im Rahmen des Filmfestes Sofia statt.

Wer nun nach Gründen sucht, wie so etwas möglich ist, der findet ein Indiz in der Tatsache, dass der Film nicht den Titel der bulgarischen Originalausgabe von 2013 gewählt hat, der nach der letzten Geschichte des Bandes I vsičko stana luna [Und alles wurde Mond] lautet, sondern jenen der deutschsprachigen Ausgabe von 2016, 8 minuti i 19 sekundi [8 Minuten und 19 Sekunden]. Bedenkt man – siehe oben –, dass ein Autor im deutschen Sprachraum schon sehr angesehen sein muss, damit große Zeitungen wie die Süddeutsche Bände mit kürzeren Erzähltexten von ihm besprechen,[1] bekommen wir einen Eindruck davon, welche Ausnahmestellung Georgi Gospodinov sich unter den nach 1989 im Westen publizierten bulgarischen Autoren erschrieben haben muss. Die Rezensentin der Süddeutschen geht so weit, ihm einen festen Platz in der Weltliteratur zuzusprechen. Im Hinterkopf der Regisseure, vielleicht auch der Produzenten des Episodenfilms wird also die Möglichkeit eines internationalen Erfolgs eine große Rolle gespielt haben, und zwar nicht so sehr im materiellen Sinne als vielmehr im Sinne der grenzüberschreitenden Wahrnehmung und Anerkennung bulgarischer Kunst und Kultur. Bulgaren leiden seit jeher darunter, dass so wenige von ihnen international berühmt sind, und so wird jede Erfolgsmeldung eines im Ausland berühmt Gewordenen gierig aufgegriffen und über alle verfügbaren Medienplattformen verbreitet.

Wenn Georgi Gospodinov, 1968 in der Nähe des ostbulgarischen Jambol geboren, heute als der angesehenste und in Bulgarien meistgelesene einheimische Schriftsteller gilt, so ist dies sicherlich auch mit der Neugier zu erklären, die sein immenser internationaler Erfolg, verbunden mit der großen Zahl der Übersetzungen seiner Bücher, ausgelöst hat. Da es interessanterweise kein Bestseller-Erfolg ist, sondern ein Erfolg bei namhaften Kritikern und literarischen Institutionen, geht er ohne Zweifel auch auf den Umstand zurück, dass nach der politischen Wende von 1989/90 Autoren gesucht wurden, die entweder einen Ruf als Dissidenten hatten oder für den jungen demokratischen Aufbruch standen. Zu den Letzteren gehörte Georgi Gospodinov, damals 21-jährig.

In den Jahren nach 1990 war das gesamte bulgarische Verlagswesen zusammengebrochen. Veröffentlicht wurde, was vorher verboten war. Die bulgarischen Autoren – von Publikationen abgeschnitten – tummelten sich unter dem Dach von Stiftungen wie dem Open Society Fund, der sich die Förderung demokratischer Strukturen auf die Fahnen geschrieben hatte und auch literarische Veröffentlichungen unterstützte. Federführend war hier eine Gruppe frei denkender Autoren aus akademischen Kreisen, die seit 1987 mit Samisdat-Zeitschriften hervorgetreten waren und schließlich die erfolgreichste antikommunistische Wochenzeitung für Literatur, die Literaturen vestnik, aus der Taufe hoben, bei der Gospodinov Redakteur wurde.

Als 1999 sein Estestven Roman [Natürlicher Roman][2] erschien, war dies, obwohl im Jahrzehnt nach der Wende in Bulgarien viele Autoren die modernistischen Experimente der westlichen Literaturen nachholten, ein Paukenschlag. Das Buch wurde sofort zu so etwas wie der literarischen Inkunabel der Zeit und – für diese Jahre nach dem totalen Erliegen des Interesses an bulgarischer Literatur unerhört – sofort 1000 Mal verkauft.[3] Der Held lässt sich scheiden, was nach der Aufsplitterung der zuvor monolithischen ideologischen Strukturen eine damals von vielen Bulgaren geteilte Erfahrung ist. Es wird bulgarischer Alltag beschrieben, aber vor allem auch das klassische Modell der Erzählstränge neu definiert: Statt auf mehreren Ebenen immer das Gleiche zu tun, nämlich zu erzählen, begreift Gospodinov die Wirklichkeit als so disparat und multipel, dass ein Gegenwartsroman ihre Diversität sichtbar machen muss. Und so fügt er als einen »Erzählstrang« Hitlisten aus dem Bereich der Populärkultur ein, Geschichten über den weltabgewandten Sonderling Gaustín und die Kapitelserie »Zur Naturgeschichte der …«. Allein schon wegen dieser Kapitel muss auf einen gravierenden Fehler des deutschen Buchtitels aufmerksam gemacht werden, der dem Lektorat hätte auffallen müssen: Im Bulgarischen werden nicht so leicht Komposita gebildet wie im Deutschen, und so kann ein vorangestelltes Adjektivattribut in einigen Fällen als solches übersetzt werden, es kann aber – wie hier – auch Teil eines Substantivkompositums werden. Estestven roman muss also, genau wie Estestveni nauki mit »Naturwissenschaften«, mit »Naturroman« übersetzt werden. Was der entsprechend vorgebildete Gospodinov im Auge hatte, war die Vorläuferin der Naturwissenschaften, die so genannte Naturgeschichte, die – und hier findet sich die Verbindung zu seinem postkommunistischen, anti-ideologischen Erzählansatz – zählend (Hitlisten!), vergleichend (botanisches System nach Linné!) und eben beschreibend ist, sich vor allem aber durch eine noch unbelastete Objektivität der Naturschau auszeichnet. Die ideologisch verseuchte Kultur wird hier genauso betrachtet wie ein Naturphänomen.

Wer Gospodinov rezensiert, muss also immer, auch bei den Texten des Bandes 8 Minuten und 19 Sekunden, den konzeptuellen Ansatz der Texte im Kopf behalten, die gleichsam fragen: »Was wäre, wenn?« Die (in der deutschen Ausgabe) Titelgeschichte fragt: Was wäre, wenn das Sonnenlicht, das 8 Minuten und 19 Sekunden zur Erde braucht, bereits erloschen ist (und wir erfahren es erst nach 8 Minuten und 19 Sekunden)? Dann – so entwickelt er nach diesem Prolog die folgende Geschichte – verändert sich die Semantik unserer Anschauung radikal! Der Sonnenuntergang könnte ja der letzte gewesen sein! Die Story von dem Fotografen, der Kriterien für die Schönheit von Sonnenuntergängen erarbeitet, Rankings (eben Hitlisten) erstellt und schließlich sogar Lizenzen für Europa- und Weltmeisterschaften im Sonnenuntergang verkauft und dabei in zwanzig Jahren schwerreich wird, gemahnt an die Vergnügungssucht von Imperien, die, dekadent geworden, dem Untergang geweiht sind. Dabei ist die Frage, ob »Untergang« nicht zuerst eine kognitive Kategorie ist: Erst das »Was wäre, wenn?« des menschlichen Denkens generiert doch jene Erwartung, die in den Abgrund zwischen Wunsch und Wirklichkeit die schwere Luft der Melancholie einströmen lässt. Dies, so vermittelt Gospodinov, ist das genuin Menschliche und darum braucht der Mensch Geschichten als Antidepressivum, mit dem er diesen Graben überwinden kann.

Doch das Erzählen von Geschichten (mit dem Gospodinov noch aufgewachsen ist) ist eine stark gefährdete Kulturleistung und so muss das, was früher einmal einfach geschah, heute in einem Bewusstseinsakt gewollt werden. So kommt es, dass die meisten der neunzehn Geschichten des Gospodinov-Bandes Erzählungen über das Erzählen sind und damit Texte über das, was der Mensch mit seinem Gehirn, diesem Konstruktionsorgan, unvermeidlich als Erwartung in die Wirklichkeit hineinträgt.

Sehr deutlich wird dies gar nicht einmal so sehr in den ambitionierten, stark konstruierten Geschichten, die dem Autor den Ruf des Postmodernisten eingetragen haben, was bei vielen Newcomern um die Jahrtausendwende in Bulgarien schwer in Mode war, sondern in den ganz schlichten Arrangements von Geschichten wie O, Henry!, in der der Ich-Erzähler als Geschichtensammler unauffällig in einem Café sitzt und eine Frau bei einem Telefonat mit einem Mann in New York belauscht. Er als Profi spinnt die Geschichte weiter und glaubt am Ende, schon sicher von einem Gang der Ereignisse zu wissen, der für das Liebespaar, das in seinem Kopf zu Protagonisten geworden ist, eine sehr zwiespältige, daher aber auch romantische Weihnachtsüberraschung sein wird. Wen hat die Geschichte nun überwältigt? Und: Wo spielt diese Geschichte – in der Realität oder in der Fantasie?

Ein ganz schlichtes, aber anrührendes Beispiel für den letzteren Fall ist die kurze Erzählung Tochter [Dăšterya]. Ein Mann steigt zum Ich-Erzähler ins Zugabteil mit einer Stoffpuppe, die er behandelt, als wäre sie ein Lebewesen: seine Tochter. Empört über den Verrückten wechseln die Mitreisenden das Abteil. Nur der Ich-Erzähler bleibt, weil der Mann ihm seine Geschichte erzählt. Ihm stehe eine schwere Krebsoperation bevor, er wisse nicht, bei wem er seine Tochter lassen solle, sagt er bittend. Schließlich verspricht der Ich-Erzähler dem Mann, sich um »das Kind« (S. 80) zu kümmern. Er tut es auch dann noch, als der Mann, unheilbar krank, stirbt. Denn was könnte für einen Erzähler schlimmer sein, als nicht an die Wahrheit einer Geschichte zu glauben?

 

Zuerst erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2019), Jg. 14 (68), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 228–231.

 

[1] Insa Wilke: Der aufrecht lesende Mensch. In: Süddeutsche Zeitung, 27.5.2016.

[2] Georgi Gospodinov: Natürlicher Roman. Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Graz 2007.

[3] Stand Mitte 2018 ist das Buch in der 7. Auflage, also im 7. Tausend.

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