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Ilse Hehn: Roms Flair in flagranti | Rezension

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Ilse Hehn: Roms Flair in flagranti. Ludwigsburg: Pop Verlag 2020. 142 S. 64 Fotos.

Von Franz Heinz

 

„Die Stadt ist kompliziert, endlos, strapaziös, antik, genial, barock, selbstbewusst, verrückt, unheimlich, überwältigend. Doch bekommen wir nicht gerade dadurch Lust, sie zu mögen?“ (S. 108) – Ilse Hehns Antwort darauf ist das im Pop Verlag erschienene Buch Roms Flair in flagranti, dem es gelingt, nicht nur eines neben vielen anderen Rom-Büchern zu sein. Es ist nicht vordergründig darauf aus, Wissenswertes zu wiederholen oder anders auszuleuchten, auf sogenannten Pflichtrouten zu bestehen und dabei griffige Zitate unterzubringen. Ilse Hehn will, wie sie ihrem Buch auf der ersten Seite vorausschickt, „Möglichkeiten eines Dialogs finden“ (S. 7), und ein solcher setzt immer ein gewisses Maß an Persönlichkeit voraus, wie auch – wenn es gut sein soll – ein gerüttelt Maß an Vorwissen, dazu bereit, auch das weniger Sensationelle gelten zu lassen, den Alltag neben der Glorie und den Schein neben dem Sein. Rom bietet alles und jedes im Überfluss, und die Römer haben es verinnerlicht, damit ebenso gelassen wie mit Bedacht umzugehen. Ilse Hehn selektiert nicht vordergründig aus der Masse – sie bewahrt sich den Blick aufs Ganze, denn nur alles zusammen ist das „ewige“ Rom, wie wir es konservieren und zugleich zerstören. So mutet es weniger programmatisch an, wenn die Autorin an die Kolossalstatue Kaiser Konstantins erinnert (auf das vierte Jahrhundert datiert) und eine Buchseite weiter den Genius Loci nicht übersieht, wie er sich mit einem eher kümmerlichen Pegasus-Fresko auf einer tristen Hausfassade am Tiber ins Blickfeld drängt – „mit poetischer Hand zwischen zwei Fenster gepinselt“ (S. 33).

„Visionen sind immer gut“ (S. 34), vermerkt Hehn an anderer Stelle. Sie helfen dort weiter, wo Verstand und Wissen versagen, wenn die Antworten auf unsere Fragen ausbleiben und uns aufs schlichtweg Irdische zurückverweisen. Sind es nicht selbst die kleinsten Fragen zur humanen Befindlichkeit auf Erden, die uns, nach der Vertreibung aus dem Paradies, überfordern? „Aber was die Schönheit ist, das weiß ich nit“ (S. 126), zitiert Hehn (Schriftstellerin, bildende Künstlerin und Kunstdozentin) den großen Albrecht Dürer ohne jede Anmaßung, ihn ergänzen zu wollen. Ohne Verklärung auch oder als Nachgriff auf Imperiales mit Scheiterhaufen.

Ilse Hehn unterliegt beim Besuch einer Vielzahl römischer Kirchen keiner wie immer gearteten Glaubensfrage. Rom ist durch und durch katholisch, und die Römer selbst haben sich dazu ihren eigenen Standpunkt zurechtgelegt. Die Autorin frömmelt nicht vor den zahllosen Altären in den Kathedralen der großen Baumeister. Für den Petersplatz genügen ihr vier kurze Zeilen. Das dazu gestellte Bild zeigt Bellinis Kolonnaden: „Es regiert der Stein.“ (S. 38) Für Michelangelos Wunderwerk in der Sixtinischen Kapelle genügen ihr acht Zeilen. Unter den zahllosen Besuchern „keiner, der lächelt“ (S. 42).

Mitteilungsfreudiger zeigt sich die Autorin zur Kirche San Pietro in Vincoli (Sankt Peter in den Ketten), in der – wie überliefert – die eisernen Fesseln zu sehen sind, die Petrus im Kerker angelegt wurden. Es ist aber Michelangelos kolossaler Moses, der, neben dem Grabmal für Papst Julius den Zweiten, übermächtig ins Bild drängt. Gewaltig, unnahbar, den strengen Blick über den Raum hinaus gerichtet in unerreichbare Weiten, so als wäre er selbst seinem Schöpfer Michelangelo entglitten. „Sprich doch!“ (S. 62) soll dieser ihn forsch angefahren und ihm dabei den Meißel aufs Knie geschlagen haben – wo die Kerbe heute noch zu sehen sein soll. Oder auch nicht. Denn so verhält es sich auch mit den Hörnern, mit denen Moses traditionell dargestellt wird – auf eine falsche Lesart der Bibel hin. Das erschüttert allerdings weder die Legende noch das Gottvertrauen – und der römische Moses schweigt weiter. Leichter macht es dem Betrachter der kleine säulentragende Elefant vor der Kirche Santa Maria sopra Minerva, dem es aufgetragen ist, sich zwischen Götter und Kreuz hindurch zu denken: „Es bedarf eines starken Verstandes“, heißt es, „um die gesunde Wahrheit zu ertragen.“ (S. 82)

Es sind durchaus nicht allein diese kleinen anekdotischen Einschübe, die Ilse Hehn – mit dem Blick auf die bessere Lesbarkeit ihres sonst sehr kompakten Buches – einzusetzen versteht. Mit Bedacht nimmt sie ihrer prätentiösen Darstellung etwas von der Strenge vorweg, die jeder Gelehrsamkeit anhaftet, wenn sich diese in den Vordergrund drängt. „Il pulcino“ – den „Floh“ (S. 82) – nennen die Römer Berninis Marmorelefanten, der seinen Platz ausgerechnet im Schatten des Pantheons gefunden hat, wo, wenn auch schon halb im Erdreich versunken, die Größe und Würde des Menschen personifiziert sein will – oder doch das, was zeitweilig dafür betrachtet wird. Die Autorin wird nicht kniefällig in dieser von Legenden und Zeugnissen imperialer wie geistlicher Macht übersäten „ewigen Stadt“ am Tiber. Sie staunt, aber erschaudert nicht, sie erlebt Jahrtausende europäischer Kultur mit allen Sinnen und übersieht nicht das Krebsgeschwür der Stadt, spricht von einem historischen Blätterteig und ordnet sich vor Ort die großen Kunstdenkmäler der Antike und Renaissance zu, legt Schicht für Schicht die Kontinuität der Vergänglichkeit bloß und bleibt immer unterwegs zu sich selbst, wach und zunehmend nachdenklich.

„Der Tag versinkt in Ödschaften / unsere handkolorierten Träume / steigen planvoll ins Bild […].“ (S. 136) Es sind die Gedanken – in der Metro unterwegs ins Vorstadtquartier –, die sich im Vers gespeichert wiederfinden, um noch einmal poetisch das zusammenzufassen, was sich hinzufügen lässt. Nebenbei und zugleich bleibend.

64 Farbfotos, die meisten ganzseitig den entsprechenden Textstellen gegenübergestellt, ergänzen diese hintergründig und positioniert. Farbaufnahmen von weltbekannten Kunstwerken, historischen Schauplätzen und Monumenten mit Ewigkeitsanspruch wechseln ab mit Brunnen und Kolonnaden oder auch nur mit rotkarierten Tischdecken in der Trattoria nebenan, wo das richtige Leben so vor sich geht – oder auch nur vergeht. Zwischendurch auch Ilse Hehn selbst als befreiende Verfremdung inmitten überquellender Klassik und historischer Überlastung. Auf dem Buchumschlag und dann noch einmal im Inneren des Buches auf Seite 93 die „Bocca della Verità“ – der Mund der Wahrheit. Die kreisrunde Marmorscheibe mit dem geöffneten Mund des Tritons gilt im traditionellen Rom als eine Art Lügendetektor, was heute noch mit einem halben Schauder hingenommen und erprobt wird – zumal die Proben jeden Besucher unbelastet entlassen.

Wie schon in ihrer zweibändigen Dokumentation Heimat zum Anfassen oder: Das Gedächtnis der Dinge (2013) ist es nicht zuletzt das weniger auffallende Detail, das von Ilse Hehn auch in Rom herausgestellt wird: eine weniger bekannte Brunnenfigur, die Willkür einer Straßenführung, der Schweißrücken eines abgekämpften Athleten, ein Sonnenfleck auf der Wandgliederung des Pantheons, die Kniepartie des Auferstandenen in der Kirche Santa Maria sopra Minerva oder auch nur ein Prunkfenster zwischen schief in den Angeln hängenden Fensterläden. Es ist, in all der großen Fülle Roms, diese Harmonie der überraschenden Unregelmäßigkeiten, „die niemals ins Düstere, Erschreckende oder Romantische und erst recht nicht in etwas süßlich Gekünsteltes, etwas wehmütig Sinnliches abgleitet, sondern sich ihren herben Klang einer echten Vornehmheit bewahrt“ (S. 128). Ilse Hehns römische Fotos sind investigative Darstellungen zum Leben und Überleben in einer Stadt, die wie kaum eine zweite in Europa über sich selbst hinaus unser Gedächtnis herausfordert – und auch das Gewissen.

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