Eine Küchenschabe namens Nikita
Franz Hodjak: Was nie wieder kommt. Gedichte. Wenzendorf: Stadtlichter Presse 2022. 79 S.
Von Alexandru Bulucz
Man mag es kaum glauben, aber es gibt sie noch, die sogenannte rumäniendeutsche Literatur. Sie wächst weiter an, wenn auch nur schleppend, denn ihre Hauptvertreter – Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen, die bekanntesten von ihnen sind um die siebzig und älter – werden weniger, publizieren weniger, blieben ohne literarische Nachkommen. Irgendwann fanden sich die meisten in Deutschland wieder. Ihre Übersiedlung trug, je nachdem, wann sie erfolgte, Namen wie Flucht, Ausbürgerung, Ausreise oder Emigration. Einige verließen schon in den 1960er- und 1970er-Jahren ihr Geburtsland Rumänien, die meisten in den 1980er-Jahren. Wiederum andere erst nach der rumänischen Zeitenwende des Winters 1989.
Zu diesen gehört der Siebenbürger Sachse Franz Hodjak. Geboren im September 1944 in Hermannstadt und damit unmittelbar nach dem Sturz der rumänischen Militärdiktatur des Faschisten Ion Antonescu, durchlebt er seit 1992, das ist das Jahr seiner Übersiedlung nach Deutschland, sein viertes politisches System: Monarchie, Volksrepublik, sozialistische Republik, Demokratie westlicher Prägung. Die Gründe des ungewöhnlich langen Verbleibs des ehemaligen Lektors im sozialistischen Rumänien und seine damit verbundenen Hoffnungen sowie zerstörten Illusionen mag die Literaturforschung ausdiskutieren. Sie wird auf das Wesentliches erläuternde Nachwort eingehen müssen, das ein anderer rumäniendeutscher Schriftsteller, nämlich Werner Söllner, zu Siebenbürgische Sprechübung beitrug. Der Auswahlband mit Gedichten erschien 1990 bei Suhrkamp und gehört neben sehnsucht nach feigenschnaps, das 1988 in der DDR bei Aufbau herauskam, zu den bekanntesten Büchern von Hodjak, der nicht nur Lyrik schreibt, sondern auch Romane und Aphorismen.
Mehr als zwei Dutzend Bücher listet die Bibliografie von Hodjak auf. Und seit 1971, als er mit dem Gedichtbändchen Brachland debütierte, heimste er, und das nur in Deutschland, über zehn Preise, Stipendien und Stadtschreiberämter ein. Er bekam etwa einen der begehrten Unterpreise beim Bachmannpreis in Klagenfurt und war Dozent der renommierten Frankfurter Poetikvorlesung. Und trotzdem: Seit knapp zwei Jahrzehnten ist es seltsam still um ihn. Das hat einen Grund: 2003 veröffentlichte Hodjak seine letzte von insgesamt acht Suhrkamp-Publikationen. Seitdem ist er zum Nomaden zwischen kleineren Independent-Verlagen geworden. Seine neueste lyrische Publikation heißt Was nie wieder kommt und wurde von der Stadtlichter Presse herausgebracht, die auf die Vermittlung von Texten der Beat-Generation spezialisiert ist. Ihren herausragenden Gestalten – Ginsberg, Burroughs, Kerouac – lag es an der Entwicklung einer neuen Stilrichtung und an solchen brennenden Themen ihrer Subkultur wie Sexualität, Drogen, Jazz, Neoromantik, Neospiritualität, Erweiterung des Bewusstseins, Erforschung des Unbewussten und anderen.
Nun ist Hodjak kein Beat-Poet, Paul Celan liegt ihm zum Beispiel viel näher, und doch lassen sich einige dünne Zusammenhangsfäden ausmachen, die ihn in Was nie wieder kommt mit der Beat-Generation verbinden: Zum einen sind seine gut siebzig neuen Gedichte formal nicht auf einen Begriff zu bringen. Sie sind mal kürzer, mal länger, mal in streng strukturierte Strophen unterteilt, mal monolithisch in Gestalt. Es gibt keine Kapitelunterteilungen – und doch eine Logik, nach der sich der Gedichtband über bestimmte Bilder, Semantiken und/oder Wortgruppen (etwa über das titelgebende Verb „kommen“ und sein Pendant „gehen“) von Text zu Text weiterhangelt und zum Ende hin entwickelt.
Zum anderen verbindet Hodjak mit der Beat-Generation eine ausgeprägte Liebe zur Musik, von klassischer Musik wie in Klavierfluch (S. 62), Wer spielt wo Rachmaninow (S. 51) und Smetana im Hintergrund (S. 70) bis hin zu Jazz-Musik wie in Jazz-Keller (S. 21) und Übergänge (S. 47): „Als blase [Louis] Armstrong / auf einer Waldlichtung in / seine Trompete. / Eine Weile sitzt du // im Wald und hörst / dem Virtuosen zu. Man / spürt deutlich / wie bei dieser Musik // der Frühling in den / Sommer übergeht“. Und in dem titelgebenden Gedicht (S. 6) hört das lyrische Ich, das in anderen Texten als lyrisches Du auftritt, Janis Joplin.
Doch dann hört es mit den Gemeinsamkeiten schon auf, was am deutlichsten beim Thema Religion/Spiritualität zum Ausdruck kommt, die geradezu spöttisch abgelehnt wird wie in Siegeszug (S. 26). Und in Shaka laka (S. 13) werden die „Ewiggestrigen“ gegen jene ausgespielt, die von Hegels Begriff der Dialektik überzeugt sind: Die Ewiggestrigen „glauben weiter an / den Papst und die // Verbannung und Verbrennung“. Die Texte, in denen sich Hodjak der Religion annimmt, gehören zu den schwächeren, weil sie in ihrem Moralisieren der religiösen Diversität der Glaubensrichtungen und -praktiken nicht gerecht werden, mit einer Ausnahme vielleicht: In Von Nord nach Süd (S. 43) wird immerhin einem Instrument nachgetrauert, das bei religiösen Ritualen Verwendung findet: „Friedhofsglocken / werden gestohlen. Was / ist nur // los? Dass der Mensch / immer mehr verroht, ist bekannt, / aber so? Dass // sich genug Spender / finden, um die Glocken / zu ersetzen, gibt // Hoffnung. Vor allem, / weil auch viele Atheisten / zu den Spendern / gehören“.
Dass Hodjak zudem kein ausgesprochen politischer Dichter ist, ist allgemein bekannt. Auch im aktuellen Gedichtband ist er es nicht. Darin dominieren der Alltag, gesellschaftliche Phänomene und die Probleme, die sich, wie es scheint, mit fortschreitendem Alter und überhaupt jenem stellen, der eine Vita contemplativa führt: die in den Vordergrund tretenden Fragen nach Zukunftsperspektiven und Ungewissheiten, das sich verändernde Selbst nach einem Krankenhausaufenthalt und dessen frühzeitigem Abbruch, die bisweilen nostalgischen Gefühle gegenüber Vergangenem, die Einsamkeit, die Trauerarbeit oder die Kindheitserinnerungen an Armut. „Weshalb denkt man so / oft an die Kindheit“, fragt sich das Ich in Verschwundene Schatten (S. 60). Doch es gibt in den Gedichten auch Hoffnung und Zuversicht, die durch unerwartete Praktiken hervorgerufen werden wie beim Schnaps brennen (S. 23) im Oktober, bei dem „offene Rechnungen“ beglichen werden: „Hauptsache, / man streitet, versöhnt / sich, begleicht offene Rechnungen. / Der Mensch braucht so eine / Freude“.
Hodjaks Poesie ist eine der leisen, der unaufgeregten (zwischen-)menschlichen Töne, fast schon unspektakulär, aber umso eindringlicher, wenn sie sich mit der Undefinierbarkeit von Identitäten und mit den Grenzen von Selbstakzeptanz auseinandersetzt. Dass diese Poesie ihren Ursprung im Überlauten hat, überrascht angesichts eines Dialektik zelebrierenden Lebens keineswegs: In Silbermannorgel (S. 72) wird eine seltene Referenz an die rumänische Vergangenheit eingestreut: „Schneewehen / erinnern an Zeiten, als auf die Sprache / geschossen wurde. Der Kompass zeigte / zwar den Weg, aber schon nach / wenigen Schritten kam der erste Grenzzaun“.
Wo Hodjaks Poesie aphoristisch und sentenzenhaft und dadurch lauter wird, verliert sie wiederum an poetischer Kraft. Das macht aber nichts. Denn dann kommen Bilder, die für alles entlohnen. Ein paar Beispiele: Mikado (S. 40) beginnt so: „Das Glück ist ein Spiel, / und das fragilste / Glück ist das Mikadospiel. / Man lernt wie / das Zittern jede Mühe / zerstört. Es ist eine Zeit, in der / man daran erinnert wird, / was die nächste / Zeit bringen / könnte oder nicht“. Im hochkomischen und vergnüglichen Gedicht Nikita (S. 56) geht es um Küchenschaben als „Strohhalm in der Einsamkeit“ und speziell um die Küchenschabe „Nikita“, die bei „Klängen / des Lieds Nikita von Elton John“ beerdigt wird: „Nun geht sie den Weg / in den Himmel der Brotbrösel / und Wurstkrümel“. In Birnbaum (S. 58) geht es um die Umarmung eines Birnbaums: „Das geht niemanden etwas / an, ob du in die Klapsmühle / gehörst oder nicht“. Und in Fahnen (S. 73) kommt das vielleicht schönste Bild vor: „Licht hält die Welt zusammen / mit goldenen Spangen“.
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2022), Jg. 17, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 253–255.