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Werner Söllner: Schartige Lieder | Rezension

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Beredter Bräutigam der stummen Sprache

Werner Söllner: Schartige Lieder. Gedichte. Herausgegeben und ausgewählt von Susanne Söllner, Björn Jager, Nancy Hünger, Alexandru Bulucz. Mit einem Vorwort von Eva Demski. Frankfurt am Main: Edition Faust 2021. 151 S.

Einer Eva Demski kann man nicht widersprechen. Man muss. Sie hat ihn gekannt und geschätzt und sich weidlich verschätzt „bei Söllner, der mir, schon als ich zum erstenmal seiner ansichtig wurde, wie ein Dichter par excellence erschien“ (S. 6). So wie ihr „erschien“ er in der Tat, war es aber nicht tatsächlich. Dichter par excellence dünken einem heutzutage eher großsprecherisch, ja lauthals eloquent; er war alles andere.

„Alles“ aber kommt bei Werner Söllner nicht vor, stets nimmt er sich zurück und kommt auf einen zu – das ist der fürwahr große Widerspruch, von dem und in dem seine Lyrik lebt. Drum ist es auch ein Ereignis, dass seine Nachlasswalter ein Buch gemacht haben, in dem er einem so entgegentritt, wie er es verdient, aber niemals beansprucht hat. Seine Bücher sind nur noch antiquarisch zu beziehen, außer der letzten Knochenmusik (2015), die deshalb in dieser Sammlung nicht anklingt. Sie hallt/klappert noch nach auf dem Buchmarkt. Alle anderen Bände und vereinzelten Gedichte haben die liebevoll und freundschaftlich bemühten Herausgeberinnen und Herausgeber so gesammelt und ediert, dass man danken darf. Philologisch-kritischer Exegese bedarf diese Edition nicht, sie ist ein Akt, an dem man rückhaltlos teilhaben kann – und teilhaben an Werner Söllner, das ist viel.

Denn er hat sich nicht ent-, aber zurückgezogen, eine Poesie des Verschwindens hat er praktiziert, ein „gefährdetes Leben“ (Eva Demski, S. 6) lang, die Gefährdung lauerte überall, das steht in den Gedichten, er aber hat weitergedichtet und sich niemals gefallen im Zweifel, in der Verzweiflung. Lyrik ist schließlich, was man sagt, wenn man nicht weiterweiß. Das Schneeballgedicht (S. 45) endet denn auch mit der erstickten Hoffnung: „nicht zu versinken im mäßigen / Schnee, der uns den Mund“. Das ist der Schluss eines Textes, in dessen Mitte sich der Dichter einen nachgerade rhetorischen Ausfall gönnt: „Es ist, es verschlägt mir / die Sprache, es ist die Herrschaft der Redner über die Sprachlosen, die Herrschaft jener, die sagen: / Die Traurigen werden geschlachtet, / die Welt wird lustig.“ (S. 45)

Wie geht das zusammen, der manifeste Aufschrei und das endliche/endgültige Verstummen? Bei Werner Söllner steht über allem Sagen und Schweigen der Zweifel nicht nur an dem, was man Wirklichkeit nennt, sondern auch daran, ob man darüber reden kann: „Ich versuche zu schreiben. / Aber ich schreibe über die Verzweiflung, / als hätte sie keine Gründe. Ich schreibe / über den Wind, als wäre der Wind ein Wort / […] Als wäre nicht ich es, / der hier ist, als wäre die Wirklichkeit ein Symbol.“ (S. 32)

Das ist sie gerade nicht. Er packt sie bei den Bildern und den Leser bei den Empfindungen, und wer bereit ist, sich einzulassen auf diese Gespinste („Ach, ich spinne. Ich muß spinnen. Der Faden, an dem / du verstehst, dieser Text hängt, der dünne Faden, er / reißt, und ich hänge daran, ich muß spinnen.“, S. 79), darf mitspinnen (wir!), und da „vermeinen wir / Büchners letzten Traum vom Gehn / über Berge zu träumen, spürn wir Mardergeschmack / am blutigen Gaumen, in den Gelenken ein Schlagen / wie von abgefallenen Flügeln und im Rückgrat / das große, blinkende Schweigen / eines aufgeschnittenen Haifischs.“ (S. 46) Derlei blanke Zartheit oder zärtlich blanke Rohheit hat uns vor hundert Jahren auch Georg Büchners Erbe in Sachen Medizin und Dichtung, der un-selige Gottfried Benn, angetan. Das darf man sagen, wiewohl Werner Söllner den Gedanken an eine solche Filiation gewiss weit von sich gelächelt hätte.

Keineswegs vermessen in des Wortes doppelter Bedeutung ist es auch, anzumerken, dass einem in der zeitgenössischen deutschsprachigen Lyrik kaum Texte unterkommen dürften, in denen ein Formbewusstsein wie das dieses Verskünstlers lebt. Wer sich auf wiederholte Lektüre einlässt, dem entgilt er sie mit Einblicken in den Werkzeugkasten eines Meisters, dessen Meisterschaft darin bestanden hat, par excellence Lehrling zu bleiben.

Für blanke, bare Münze mag man die Verse nehmen, die auch Eva Demski zitiert: „aber was hab ich schon / davon, nichts als hungrigen Atem und vielleicht / ein beschleunigtes Leben, ‚eine offene Wunde‘, verletzlich / und taub. Und Metaphern / vor allem, Metaphern“ (S. 37). Die auch, ja, und so viel mehr. Beredt wie hier in einem der „langen Gedichte“, lakonisch oft, verhalten pointiert, mit häufigen Rhythmuswechseln, dann auch wieder in streng gebundenen Versen, tanzbar nahezu – nicht umsonst heißt Söllners letzter Buchtitel Knochenmusik –, so wird hier dieses „Dichterleben, also meist ein Lamento“ (S. 114), nun ja, erzählt. Die in diesem Buch geballte Sammlung entfaltet einen epischen Reiz, unsereins, dem die „sozialen Medien“ nicht nur zum Hals heraus-, sondern erst recht am Hals hängen, sieht sich versucht, diesem Leben verschämt hinterher, nachzufragen. Das kann niemand mehr, aber ein jeder kann lesen und wiederlesen. „Wirst wohl auch du dereinst / verschwunden aufstehn / ohne eigenes Dazutun / in einer anderen Nacht / und grüßen aus deiner Zeit? // Und wem wird dein Wort / zwei Zigaretten lang / ein Bruder sein, eine Schwester / fremd und vertraut?“ (S. 130) Antworten dürfen auch die Nichtraucher unter uns.

Der Dichter ist auf und davon, von uns und aus seinem Leben, aber er hat davon geschrieben und uns aufgegeben, ihm bedacht nachzulesen im Gedenken oder besser mit dem Gedanken, dass seines und unseres und diese ganze Wirklichkeit lediglich die unseren sind und nichts weiter gelten. „Liebste, der Weltnebel weicht / in entlegene Wörter zurück: / Was uns am Ende erreicht, / ist ein geschriebenes Glück.“ (S. 132) Dieses Glück wiederum hat er so geschrieben, dass man es beim Lesen empfindet. Es ergibt sich, wie vieles in diesen Texten sich zu ergeben scheint, leichthin, nahezu beiläufig – und man nimmt es gerne (hin), zumal ihm nicht anzumerken ist, welche Anstrengung es gekostet hat. Nachspüren sollte man ihr allerdings schon.

Wenn ein Sonett Gedicht heißt und so zwingend in Reime gebunden ist, als gäb’s keine andern, und wenn es mit einem Reim auf den Titel endet, dann darf man nicht auf-, sollte aber durchatmen: „In tiefer Dunkelheit ein Rest von Licht“ (S. 81). Wenn in der mittleren Strophe des Chansons ein „und“ den Rhythmus gelinde verstolpert, darf man sich freuen über die Einsicht, dass dieses Stolpern notwendig ist, weil in der ersten und der letzten ebenfalls je eines steht zwischen Wahrnehmung und Bildwerdung, vulgo Metapher, und weil solches Stolpern heilsam ist wie das der Zwerge mit Schneewittchens Sarg. (So viel Exaltiertheit wollen wir uns gönnen.) Nie, an keiner Stelle, auch nicht in dem ganz frühen Lied („für d.“, S. 12) hat Werner Söllner jemanden „einsingen“, in Gewissheit wiegen wollen, auch nicht in der, dass er selbst etwas besser zu sagen wüsste. Sein Lied ist, seine Lieder sind – schartig. Eine besondere Qualität, das Ergebnis eines, so Eva Demski, „gefährdeten Lebens“.

Die Gefährdung hat dabei nicht allein im rumänischen Sozialismus und in den Nachstellungen des Sicherheitsdienstes dort bestanden. Söllner hat die Schatten und Scharten der ersten Lebenshälfte sein Lebtag auch in der Bundesrepublik Deutschland mitgeschleppt, sie haben schließlich 2009 zu einem Riss in seiner öffentlichen Biografie geführt, als er bekannte, dass ihn jene „Securitate“ zu einer Verpflichtungserklärung gezwungen hatte, und daraufhin die Leitung des Hessischen Literaturforums aufgeben musste. Diese amtlichen Seiten des Lebenslaufs lesen sich im Licht seiner Gedichte gespenstisch, erhellen aber wiederum zumindest denen, die mit der „Materie“ zu tun hatten, manch dunklen „weißen Fleck“ in den Versen. So bereitet Sprachigkeit. Ein Gedicht, 1979, also noch zu Söllners Bukarester Zeit, als Band erschienen in der pawel pan presse Dreieich, allen, die jene Sprach(los)igkeit nachsprechen können, geradezu diebischen Spaß durch die vermeintlich simple und gerade darum so effektvolle Dekomposition von deutschen Komposita mit gesellschaftspolitischem Hintergrund – und, siehe da, doppeltem Boden (S. 47).

Der hallt und hallt nach in den siebenbürgisch grundierten Gedichten aus Werner Söllners hoch artistischem wie berührend untröstlichem Band Der Schlaf des Trommlers (1992). Dorflandschaften der Kindheit im europäischen Südosten steigen auf, Bedrohung ist ebenso allgegenwärtig wie „ursprüngliche“ Schönheit; sie fügen sich zu Texten, die modern zu nennen trivial, nahezu frivol ist. Dazu fügen sich nicht minder rätselhafte, wenngleich nie verrätselte Impressionen aus dem urbanen Westen mitsamt literarischen Reminiszenzen von Heine bis Proust so zwanglos, wie Söllners sprachlicher Duktus daherkommt, zum Gesamtbild eines Innenlebens, von dessen Intensität zu lesen einen mitnimmt. Er hat stets davon geschrieben, dass nichts einfach ist, und stets gezeigt, dass die Sprache, seine „stumme Braut“, dennoch viel zu sagen vermag. Ihm hat sie geholfen, ihm war sie vertraut. Diese Vertrautheit allerdings war allein ihm vorbehalten. Menschen, die ihn lesen, fühlen sich sanft ins Vertrauen gezogen. Freundlich, gar lustig gibt sich der Dichter – aus tiefster Freudlosigkeit, aus dem Bewusstsein der Leere. Dorthin nimmt er jeden mit. Werner Söllners Lyrik schließt jeden ein und zugleich aus. Fast freuen darf man sich, dass man solche Texte nicht selbst schreiben kann, muss. Der nachgelassene Text Geh in den Wald soll deshalb auch nur genannt werden, ihn zu zitieren wäre des Dichters und des Gedichtes unwürdig.

„Viel / wird verschwunden sein. // […] Schön waren Morgen / und Tag. Bißchen mühsam / das Aufstehn und Gehen. Ich lag / und hab ein Gesicht gesehn / aus Wasser und Stein“ (S. 124). Wenn man es recht bedenkt, ist einem solches auch selbst schon widerfahren, hier aber springt es einen an, dieses Gesicht. Und nichts hilft gegen eine Einsicht, wenn sie dermaßen widersprüchlich und unwidersprechbar vor einen gestellt wird: „Sei, höre ich, der du bist. Es regnet von unten nach oben. / Es ist so dunkel, daß die Menschen leuchten.“ (S. 66)

Georg Aescht

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2022), Jg. 17, IKGS Verlag, München, S. 251–254.

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