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Kapka Kassabova: Die letzte Grenze | Rezension

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Feueranbeter, Schmuggler und Heimwehkranke

Kapka Kassabova: Die letzte Grenze. Am Rand Europas, in der Mitte der Welt. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Wien: Zsolnay Verlag 2018. 383 S.

Von Klaus Hübner

»Was ist eine Grenze, wenn die Definitionen aus den Lexika nicht ausreichen?«, fragt die 1973 in Sofia geborene britische Journalistin Kapka Kassabova zu Beginn ihres Buches (S. 20). Sie hat auf mehreren Reisen eine in Zentraleuropa wenig bekannte Grenzregion erkundet, in der, wie sie einleitend schreibt, »etwas wie Europa beginnt und etwas endet, das nicht ganz Asien ist« (S. 13). Betrachtet man das Cover von Die letzte Grenze, drängt sich für diese Gegend, in der Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen, die antike Bezeichnung »Thrakien« auf. In dem von Mythen durchdrungenen Raum zwischen den Rhodopen, der Ägäis und dem Schwarzen Meer verortet die Autorin jene angeblich »letzte Grenze Europas«, deren verworrene »Menschengeschichte« (S. 13) sie erzählen möchte – subjektiv, in der Ich- Form, und eher anekdotisch, im Sinne eines allmählich zu einem stimmigen Bild werdenden Sprachmosaiks. Struktur und Stil erinnern ein wenig an das im selben Verlag erschienene Donau-Buch von Nick Thorpe.[1] Hat man also ein historisch fundiertes Reisebuch vor sich, mit zahlreichen, oft recht wunderlichen Protagonisten und noch nie gehörten Geschichten, im besten Sinne aufklärerisch und unterhaltsam zugleich, keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebend und die Neugier, vielleicht sogar die Reiselust des Lesenden erweckend? Ja– aber nicht nur. Denn Kassabova erzählt auch, passagenweise sehr intensiv, von tagesaktuellen Problemen heute dort lebender Menschen. Was nicht immer lustig ist, sondern oft genug schockierend, brutal und traurig.

Die im Kalten Krieg in dieser Grenzregion üblichen menschenverachtenden Verbrechen werden an einigen erschütternden Beispielen in Erinnerung gerufen, vor allem im ersten der vier Großkapitel des Buches. Der »Eiserne Vorhang« war, das macht Kapka Kassabova deutlich, weit mehr als eine Metapher – für viele Menschen war er eine blutige Realität. Und das ideologisch konfrontative ­20. Jahrhundert ist mit den Wendejahren 1989/90 nicht einfach gestorben – es wirkt weiter, bis heute. »Wir möchten glauben, es sei vorüber«, sagt ein vor 1989 bei seinem Fluchtversuch von bulgarischen Grenztruppen geschnappter und in die DDR verbrachter Ostdeutscher. »Aber so ist es nicht« (S. 113). Wenn man den in Die letzte Grenze versammelten Fluchtgeschichten vertrauen kann, müsste man eigentlich zum Kommunistenhasser werden. »Eifere ich?«, fragt die Autorin ihr Publikum und sich selbst (S. 76), und man wird ihr wohl antworten müssen: leider nein. Auch wenn man weiß, dass der Kommunismus nichts übrig hatte »für bourgeoise Angelegenheiten wie Vergangenheit oder Umwelt« (S. 39), wird man angesichts der hier im Detail vorgeführten umfassenden Zerstörungen der Natur, der Traditionen und der Seelen mehrfach aufschreien. Die katastrophalen Folgen der bulgarischen Diktatur werden ungeschminkt geschildert, die nicht nur sozialen Verwerfungen in der drei ganz unterschiedliche Länder umfassenden strukturschwachen Region werden eindringlich erläutert, die ethnische, religiöse und politische Vielfalt Thrakiens wird immer wieder betont. Ob Süd-Bulgarien, Ost-Griechenland oder West-Türkei – Thrakien ist immer noch eine arme Region, mit hektisch-chaotischen Städten und vor sich hin dämmernden Bergdörfern, bewohnt von Menschen, die eigentlich »nur Überlebende« sind: »Die Frauen waren alt, die Männer einsam, und die Kinder waren weg« (S. 40). Die Menschen versuchen natürlich, sich irgendwie mit dem ­21. Jahrhundert zu befreunden und mitzuhalten im digitalen Kapitalismus  – einfach ist das nur selten, zumal man sich vielerorts mit einer »Hydra legalisierten Verbrechens« konfrontiert sieht (S. 124). Manchen gelingt es, anderen nicht. Viele alte Probleme bleiben, neues Konfliktpotenzial kommt hinzu. Auch an diesem Rand Europas geht es um den Umgang mit Flüchtlingen aus der arabischen Welt, deren Zahl sich spätestens seit dem Sommer ­2015 rapide vermehrt hat.

In Die letzte Grenze begegnet man Heimatvertriebenen, Umgesiedelten und Heimwehkranken, aber man trifft auch auf windige Geschäftemacher, Schlepper und Schmuggler, Polizisten und Zollbeamte. Man begegnet einer oft atemberaubend schönen Natur, in der allerlei Geister und Drachen herumspuken und Feueranbeter auf glühenden Kohlen tanzen. Man begegnet Schatzsuchern und Hellseherinnen, Archäologen und Ornithologen. Man liest von Geiern, Bären und Vipern und lernt einige endemische Tier- und Pflanzenarten kennen. Man streift durch Gebirge und Ebenen, erliegt der geheimnisvollen Magie wilder Flüsse, wird in prähistorische Höhlen, an abgelegene Heilquellen oder auf einen alten Leuchtturm im Schwarzen Meer entführt. Man wird an Orte geleitet, die von stinkenden Fabriken, verlassenen Kasernen oder trostlosen Betonruinen beherrscht werden und vom rücksichtslosen Umgang mit Mensch und Natur zeugen. Der Fluchtpunkt allen Erzählens ist stets die Grenze, ist das Leben an und mit den vielen Grenzen, immer schon und auch heute noch – sehr deutlich wird das im zweiten Großkapitel, in dem unter manch anderem die »Geschichte der bulgarischen Muslime« (S. 153) erzählt wird, die noch 1989 unter menschenunwürdigen Umständen vom bulgarischen ins türkische Staatsgebiet getrieben wurden und sich auch heute oft nicht sicher sind, ob sie eher nach Edirne oder eher nach Svilengrad gehören. Im dritten Teil durchstreift man die Rhodopen, lernt muslimische Familien kennen, deren Vorfahren willkürlich deportiert wurden, bestraft »für das doppelte Verbrechen, Pomaken und Grenzbewohner zu sein« (S. 252­), und wird darauf hingewiesen, dass das Leben auf der griechischen Seite der Grenze nicht unbedingt besser ist: »Drama lag in Frühlingsblüte und in den Tiefen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs« (S. 268). Auch hier sind die Schatten der Geschichte lebendig: die »Metaxas-Linie« mit der Festung Lisse, verdächtige Phantomdörfer, »Berge des Wahnsinns« (S. 277), auf denen ein Hotel mit grandiosem Bergblick über einem soeben errichteten Hochsicherheits- Flüchtlingslager steht, öde Tabakfelder, dazu unberechenbare Alkoholiker und nicht wenige eben mal 40-jährige Witwen – die Fülle der Schauplätze und Schicksale, die Kassabova dramaturgisch gekonnt in Szene setzt, ist nahezu unermesslich. Das gilt auch für das letzte Kapitel, das im türkischen Strandscha- Gebiet spielt, wo eine Öko-Farm neben einem Atomkraftwerk oder ein Köhler neben einer Zementfabrik nichts Besonderes sind, wo man den Wächter eines verwunschenen Felsenklosters trifft und den allerersten Roma-Abgeordneten der gesamten Türkei. Und wo, wenn der Neffe seinen Militärdienst antreten muss, ein ausgelassenes Fest gefeiert wird, bei dem die Frauen »Spuren der Tränen in ihrem Lächeln« nicht ganz verbergen können (S. 349).

Die letzte Grenze bringt Licht ins Dunkel Thrakiens und seiner weitgehend unbekannten jüngeren Vergangenheit und trägt damit in mehrfacher Hinsicht zur Aufklärung bei. Auch wenn es sprachlich ab und zu ein bisschen holprig zugeht – ob sich die 2017 auf Englisch erschienene Originalausgabe flüssiger liest? –, unterbricht man die Lektüre ungern, fasziniert und angeregt von den lebensprallen Charakteren und den schier unglaublichen Episoden, die Kapka Kassabova geschmeidig und plausibel miteinander verbindet. Abgesehen von der Faszination – man lernt auch viel Neues aus ihrem oft bedrückenden und stets erhellenden Buch, das man getrost weiterempfehlen kann.

 

[1] Nick Thorpe: Die Donau. Eine Reise gegen den Strom. Wien 2017. Vgl. Klaus Hübner: Von der Mündung bis zur Quelle. In: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas 13 (2018) H. 1, S. 234–236.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2019), Jg. 14 (64), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 222–224.

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