Der Exodus, den wir nicht vergessen dürfen
Oleg Serebrian: Tango in Czernowitz. Roman. Aus dem Rumänischen von Anke Pfeifer. Heidelberg: Morio Verlag 2023. 403 S.
Czernowitz kehrt im Jahr 1944 nach einer kurzen Besatzung durch die Sowjets wieder unter rumänische Kontrolle zurück. Doch nun sieht sich die Stadt erneut mit dem unaufhaltsamen Vormarsch der Roten Armee konfrontiert, während Marta und Filip Skawronski, ein Ehepaar, inmitten dieser bedrohlichen Lage über eine mögliche Flucht nachdenken. Die russische Armee rückt immer näher, und vor dem Hintergrund der tragischen Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bukowina entfaltet sich eine komplexe und fesselnde Liebesgeschichte zwischen Marta und Filip, die von Leidenschaft, Verlust und dem Streben nach Überleben geprägt ist.
Neben der packenden Familiengeschichte zeichnet sich dieser Roman durch die bemerkenswerte Fähigkeit des Autors aus, einen äußerst präzisen historischen und geografischen Kontext zu schildern. Der Autor schafft es auf bemerkenswerte Weise, die Atmosphäre der Zeit und des Ortes einzufangen und den Leser in die Wirren des Zweiten Weltkriegs zu versetzen. Durch eine sorgfältige Recherche und eine akribische Darstellung der historischen Ereignisse vermittelt er ein lebendiges Bild der politischen und sozialen Umstände, die das Leben der Menschen in Czernowitz geprägt haben. Man spürt förmlich die Spannungen, Ängste und Unsicherheiten, die während dieser turbulenten Zeit allgegenwärtig waren. Besonders beeindruckend ist die detaillierte Darstellung der geografischen Gegebenheiten und der kulturellen Vielfalt der Bukowina. Der Autor lässt die malerischen Straßen und Plätze von Czernowitz förmlich vor unseren Augen erstehen und entführt uns in die lebendige und pulsierende Atmosphäre der Stadt. Durch seine präzise Beschreibung der Architektur, der lokalen Bräuche und Traditionen und sogar der Gerüche und Geräusche gelingt es ihm, ein vollständiges und authentisches Bild der Stadt zu zeichnen.
Diese Region ist für die oft tragischen Ereignisse bekannt, die sie durchlebt hat, und der Roman verdient Anerkennung dafür, dass er den Leser in die Tiefe dieser Ereignisse eintauchen lässt, nämlich in den Alltag der Menschen, die sie hautnah erlebt haben. Man kann förmlich die Ängste und Sorgen spüren, die mit der ständigen Bedrohung durch die Siguranţa, die Geheimpolizei des rumänischen Regimes, einhergingen. Gleichzeitig fühlten sich die Einwohner angesichts der sich auftuenden Perspektiven erdrückt: einerseits eine mögliche erneute sowjetische Invasion und andererseits eine Annäherung an die Achse und Nazideutschland. Eine reale, greifbare und ständige Versuchung bestand darin, in Richtung Südamerika zu fliehen, um der unsicheren und gefährlichen Situation zu entkommen. Das Bewusstsein, dass sie tatsächlich an der Front lebten, war schrecklich und unerträglich. Die Bedrohung war allgegenwärtig, und die Menschen waren gezwungen, in ständiger Alarmbereitschaft zu sein. Der Autor schafft es, diese komplexen Emotionen und die Atmosphäre dieser Zeit meisterhaft darzustellen: Ein faszinierendes Detail, das bereits auf den ersten Seiten des Romans hervortritt, ist die Dunkelheit, die sich über die Stadt legt, obwohl sie heute als kulturell äußerst lebendig bekannt ist. Die sowjetischen und deutschen Angriffe zwingen die Bewohner dazu, die Lichter zu löschen, was eine unheimliche und zugleich mysteriöse Atmosphäre erzeugt. Dieses Mysterium vermengt sich mit den Kindheitserinnerungen der Protagonisten, die im Vergleich zu den traumatischen Ereignissen, die sie erlebt haben, notwendigerweise in einem rosigeren Licht erscheinen. Diese Erinnerungen knüpfen an die Tradition des »mythischen« Erzählens in der Region an, die auch in deren deutschsprachiger Literatur präsent ist. Die Verbindung zwischen der Dunkelheit der Stadt und den Kindheitserinnerungen der Protagonisten eröffnet eine neue Perspektive auf das Zusammenspiel von Realität und Nostalgie. Die Kinder sehen die Stadt möglicherweise mit Staunen und durch die Linse ihrer Fantasie, während die Erwachsenen mit den harten Realitäten des Krieges und ums Überleben kämpfen. Diese Vermischung von Erinnerungen und Mythos fügt dem Text eine weitere Dimension hinzu und verdeutlicht die komplexe Beziehung zwischen individueller Erfahrung und kollektivem Gedächtnis.
Die mythische Stadt Czernowitz und die mythische Bukowina waren ein Schmelztiegel vieler verschiedener Sprachen und Kulturen. Rumänen, Ukrainer, Russen, Österreicher, Deutsche, Huzulen, Juden, Türken und viele andere kamen hier zusammen und prägten die kulturelle Landschaft. Diese reiche Vielfalt an Ethnien und Traditionen, die das »wahre Wesen« der Region ausmachten, findet auch im Roman ihren Ausdruck. Ein wesentliches Merkmal, das diese Vielfalt verdeutlicht, sind die Namen der Protagonisten, die auf verschiedene kulturelle Hintergründe verweisen. Die Architektur ist ein weiteres Element, das die kulturelle Vielfalt der Region widerspiegelt. Vom Schtetl bis hin zu den prächtigen Jugendstilpalästen erzählt die beschriebene Architektur von der historischen Entwicklung und den Einflüssen verschiedener kultureller Strömungen. Die ebenfalls beschriebene kulinarische Vielfalt zeigt gleichermaßen die Verschmelzung von Traditionen und Geschmäckern.
Meiner Meinung nach zeichnet sich dieser Roman durch seine einfache und flüssige Schreibweise aus, die es geschickt vermag, den Leser an einen ganz bestimmten Ort und in eine ganz bestimmte Zeit zu versetzen. Es ist der Schauplatz der Ereignisse, der im Zentrum der europäischen Geschichte steht, und gleichzeitig der Alltag einzelner einfacher Menschen, die sich der Bedrohung, die über ihnen schwebt, möglicherweise nicht vollständig bewusst sind. Dieses Land, diese Heimat, ist untrennbar mit ihrem Schicksal verbunden: Czernowitz. Der Autor Oleg Serebrian verknüpft auf geschickte Weise historische Ereignisse mit dem Privatleben der Protagonisten, um eine ergreifende Erzählung voller Zärtlichkeit, Traurigkeit und Angst zu kreieren. In einem eindrucksvollen Panorama werden die Figuren in ihrem Streben nach Leichtigkeit und Anerkennung porträtiert, während sie verzweifelt nach den richtigen Worten ringen. Sie versuchen zu helfen, aber scheitern auch oft. Dabei schwanken sie zwischen Loyalität und Verrat, da sie von den Wirren der Zeit und den Herausforderungen ihres persönlichen Lebens geprägt sind. Der Roman ist eine Hommage an die Zehntausende Bewohnerinnen und Bewohner der Bukowina, die den qualvollen Exodus der 1940er-Jahre durchleben mussten. Durch eine dichte Atmosphäre und bewegende Schilderungen wird das Schicksal dieser Menschen einfühlsam dargestellt. Der Autor lässt den Leser an ihren Ängsten, Hoffnungen und Träumen teilhaben und vermittelt auf mitreißende Weise die Tiefe ihrer menschlichen Erfahrungen. Diese geschickte Verwebung von historischen Fakten und individuellen Schicksalen schafft eine eindringliche Erzählung, die den Leser in ihren Bann zieht und zum Nachdenken über die tragischen Ereignisse und ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen anregt. Und der Tango? Nun, das müssen Sie selbst herausfinden.
Giulia Fanetti
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 261–263.