Sprache ist ein Verräter / Wir sind ausgebadet
Tomaž Šalamun: Steine aus dem Himmel. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck. Berlin: Suhrkamp 2023. 286 S.
Mit Steine aus dem Himmel liegt eine erste umfassende Übertragung ins Deutsche aus dem Spätwerk von Tomaž Šalamun vor. Der slowenische Lyrik-Avantgardist (1941–2014), der in deutscher Sprache zuvor lediglich mit einigen wenigen Bänden während all der Jahre, unter anderem übersetzt von Peter Urban und Monika Rinck bei S. Fischer und Edition Korrespondenzen, erschienen ist, stellt dagegen mit wesentlich mehr ins amerikanische Englisch (und über 20 weitere Weltsprachen) übersetzten Büchern – Šalamun lebte, studierte und lehrte lange Jahre in den USA – eine bedeutende Brücke der europäisch-spätsurrealistischen Beeinflussung beider Kontinente dar. Dessen Rezeption hierzulande könnte sich allerdings nun von einem eher Spezialistenpublikum durch Steine aus dem Himmel, erschienen in einer großformatigen Bibliothek Suhrkamp-Ausgabe, zu einem deutlich größeren Leserkreis ausweiten. Denn obwohl Šalamuns verrätselte Bilderwelten, die vor Assoziationsreichtum sprühen (nicht unbedingt vor allgemein nachprüfbarer Sinnlogik), scheinbar unzugänglich wirken, sorgt die ruhige, bedachte Übertragung des Teams aus Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck für eine durchgehend sachte, schwellenleichte Lesbarkeit der teilweise unter Hochgeschwindigkeit sich ausbreitenden Denkketten dieses Dichters. Šalamuns Lyrik kann im vorliegenden neuen Auswahlband verfolgt werden, als wäre man lesend (träumend) auf den Spuren eines anderen Träumers beziehungsweise: Es wird das Nachträumen der Schriftträume eines Poeten dank dieser Übersetzung zu einer Einladung gemacht, oder in dessen eigenen Worten: »Botschaften ebnen sich den Weg.« (S. 17)
In einer angemessen kurzen Nachbemerkung, welche diese späten Gedichte als einen nach existenzieller Schaffenskrise erfolgten Wiederbeginn des Schreibens Šalamuns (ab 1995) einordnet (S. 232), wird die »todernste Ironie« (ebd.) in den Versen des in der Zwischenzeit unter anderem als Buchhändler und Börsenmakler agierenden Šalamun unter die Lupe genommen. Hinter den Brüchen im Leben wie im Werk steckt jenes Existenzielle, das Festhalten an einer Ausgangsposition, tief in seine Gedichte hineingewoben: »Du bist Slowene, darum bist du traurig« (S. 11), später: »Slowenien // war früher der Tartarus«. (S. 223) Auch dichtet Šalamun relativ explizit über das eigene, damalige Verstummen: »Nach einer gewissen Erfüllung der Jahre verschwinden wir Dichter […] Ich ließ die Quelle ohnmächtig werden. Die Wonne ließ die Quelle ohnmächtig werden«. (S. 67)
Neben diesem zwar zunächst extravagant, jedoch letztlich noch geerdet scheinendem Schriftfluss ist es aber in der Hauptsache das dennoch dezidiert Exaltierte, wie eruptiv in den Strom Geratende, das Šalamuns Lyrik so bildhaft, expressiv wie auch zuweilen borstig erscheinen lässt: »Christus ist mein Sexobjekt, also / bin ich ethisch unproblematisch. Ich treibe / ihn auf die Auen. Ich hüte ihn, wie ein Hirtenjunge.« (S. 29) Paradoxa wie »Mit Stecknadeln pumpst du die Luft auf« (S. 47) oder »Über der brodelnden Lava bildet sich eine Eiskruste« (S. 31) treffen auf Insistierungen über ungeläufigerem Ausdrucksmaterial wie nachgerade seltsamen Ausbrüchen, zum Beispiel in Mamma merda (S. 37): »Kacke ist freundlich, wenn du sie auskackst« oder »Jaguare häuten die Pfarrkirche« (S. 75).
In den verschiedenen Abschnitten von Steine aus dem Himmel, die jeweils aus unterschiedlichen Lyrikpublikationen des Spätwerks ausgewählt worden sind, zeigen sich insgesamt jedoch einige übereinstimmende Parameter und charakteristische Wirkweisen des Šalamunschen Dichtens: Dies sind zum einen die überraschenden Momente einer widersprüchlichen Geschwindigkeit, irritierend, flirrend, sozusagen paradoxer Schnelligkeit von gleichzeitigem Verweilen – in solchem Zusammenhang könnte man fast versucht sein daher zu flapsen: »Oxymorons galore!« in diesem Buch. Jene Artefakte, gewissermaßen flüchtige wie oft wertfrei gehaltene Anblitzungen von größeren, unauserzählten Komplexen, das heißt ohne Parteinahme des lyrischen Ichs beziehungsweise der Textstimme vorgetragene Subeinheiten, welche überall im Gedicht lauern, entwickeln aus dem Nichts eine eigene Präsenz, nicht selten einem Fenster vergleichbar zu anderen Welten. So, wie der Autor sie im Übrigen selbst gesehen oder erlebt habe, laut des kurzen Gesprächs im Nachwort zwischen Šalamun, der sich ansonsten stets weigerte, sich poetologisch zu äußern, und Gesprächspartner Aleš Šteger: »Ich schreibe es schnell auf und dann ist es da – oder manchmal kann ich es eben nicht und es verschwindet.« (S. 233)
Zum anderen kann sich derberer Wortwitz aus schräger Perspektive in die Gedichte hineinschleichen wie in Hemd (S. 47): »Meister Eckhart verwendet das Wort / entfernt genau wie ein Teenager / aus Ljubljana das Wort abgefahren«, oder aus den verstärkt genutzten, im Deutschen durch die Übersetzung herbeigeführten Sprachhüpfern: »Das Weinen ist aus den Borsten / von Bürsten« (S. 167) – ein Charakteristikum, das diese Texte rundweg unterhaltsam macht.
Weiter können die sprachwirscheren Momente von »Schöpfung« an sich vorherrschen oder regelrecht hineinbrechen wie in Gott (S. 45), einem Gedicht, das durchaus eine Korrespondenz zu den titelgebenden Steinen aus dem Himmel aufbaut, mit Gott auf einem Berg als eine Art Dingeschleuder-Wesen, das dem Autor selbst gleichen könnte, der hier eine Umschreibung des Gedicht(ein)fallens ins Wort setzt, sowie per se zu einem wörtlichen »Hageln« (S. 231) des Geschöpften oder der Geschöpfe.
Oder aber, als weitere Wirkweise, es kommt eine gewaltvolle Sprachübernahme/-lust ins Spiel der Poesie, wie explizit in dem Gedicht zu Serien mörder Jeffrey Dahmer in Verbindung mit Jona (im gleichnamigen Gedicht): »Wir Menschen, die wir durchs Blut waten, sind / erotisch und interessant. Schreiben hohe Poesie.« (S. 41) In diesem Sinne durchziehen den Band zum Teil aggressive sprachliche Bilder, dornig, Wunden schlagend, fast kriegerisch, um in einem zweiten Winkelzug allerdings meist umzuschlagen in eine eher alltägliche Bemerkung. Als zweiter Weg hinaus, für einen herbeigeführten Tonwechsel, münden die Verse nicht selten in eine direkte Frage – eine Art Ballspiel oder mitunter beharrliche Wiederholungstat, die Tomaž Šalamun als Empfänger seiner mannigfaltigen Bilder betreibt, deren Ironie im Grunde darin besteht, dass sie sich nie verbindlich zeigt, sondern implizit das Gedicht zusammenhält. Es kann ironisch gelesen werden, gleichzeitig ist die rein bildliche Ebene aber durchaus ernst zu nehmen als poetischer Schrecken. Dazu eine Passage aus dem Gedicht Akazie (S. 93): »Ich zitterte über der Autobahn, die Gewalt schob mich / übers Geländer, ich wollte nicht, die Gewalt wollte, // ich schrieb, wusste nicht, dass ich mich so / verletzen würde«.
Um einmal ein Einzelgedicht in Gänze für das Zusammenspiel aller hier vorgenannten Wirkweisen zu zitieren, sei Ähem (S. 107) an dieser Stelle ausgewählt: »Haben Äderchen dem Pelikan die Fabel geöffnet? / Woher kommt seine Einfachheit? // Ich rutsche und liebe dich, bis zum großen Zeh / werde ich dich verschlingen und erschlagen. // Ich sehe grüne Fenster. Die Nachtfalter habe ich / gebügelt. Ich belebe // Gräber. Zunge, mit Schnee, dein / Wasserfall. Schau, die Augen sind Mantras. Du bist eine Statue, // erstarrst. Dann kann ich im See / Schmetterling schwimmen und // einen Rekord aufstellen. Du umwickelst mich. / Das Ich umwickelt dich. Und es fällt // Regen und ich sehe die Sonne. Und auch wenn / die Sonne scheint, seh ich die Sonne«.
Im Ablauf des Bandes scheinen knappe und lange Gedichte kompositorisch gegeneinander ausgespielt zu werden. Komplexe Zeichensetzung nebst einer insgesamt volatil wirkenden Textgrafik aus kurzen und längeren Zeilen, sehr unterschiedlichen Textverläufen, die zwar nicht im engeren Sinne dekonstruktiv sind, entfalten jedoch, zusätzlich zu den häufiger eingefügten englischsprachigen Zeilen (zum Beispiel auf S. 147), eine durchgehend verunsichernde Wirkung auf die Leserschaft. So wird von Šalamun eine permanent unruhige Sicht auf das Dichten wie auch aufs Leben inszeniert, die auch in den Versen selbst zu Wort kommt und ausgesprochen wird: »Poesie trägt nicht / zum Frieden bei. Sie trägt zu Explosionen und // Schmerzen bei.« (S. 185)
Immer wieder schieben sich während des Textvortrags Personen in die Gedichte hinein, als ob sie zu den Šalamunschen Fenstern, die sich ihm zuvor inspirativ geöffnet haben, hereinblickten, wie beispielsweise Blücher (S. 193), Pasolini (S. 179) oder Tasso (S. 209) und andere scheinbar zufällige Cameoauftritte weiterer Personenschaften. Am häufigsten ist es Metka, Šalamuns Ehefrau, die bildende Künstlerin war (S. 205) und der er viele Gedichte explizit widmet: »Ich bin dein Ehemann, dein Geliebter, / ich war dir Hebamme bei deinen / Bildern«.
Insgesamt bleibt es eine abenteuerliche Erfahrung, Tomaž Šalamun zu lesen. Das avantgardistische Versprechen dieser Gedichte löst das vorliegende Buch voll und ganz ein. Den gewichtigen Band und mithin das Werk beschließt ein Haiku-artiges titelloses Kurzgedicht, in vielerlei Hinsicht eine offene Summe vieles Vorherigen: »Oh, Wurm, wie das Kind weint, / oh, Wurm, / höher als der Sinn der Sonne.« (S. 229) Damit kommt ein nach alldem scheinbar Chaotischen dennoch zielgenaues Dichten zu seinem Abschluss. In jeder Hinsicht liegt ein monumental verspieltes genauso wie eigenwillig schroffes Dichtkunstwerk mit Steinen aus dem Himmel vor. Endlich, kann man sagen.
Jonis Hartmann
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2023), Jg. 18, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 259–261.