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Karl-Markus Gauß: Die unaufhörliche Wanderung | Rezension

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Salzburg ist Europa
Karl-Markus Gauß: Die unaufhörliche Wanderung. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2020. 204 S.

Von Klaus Hübner

Er selbst habe in seinem Leben noch keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken, erzählt Isuf, der muslimische Sommelier aus Berat im innersten Albanien. „Um den Wein zu beurteilen, genüge es ihm, ihn zu sehen und zu riechen, seine Herkunft und Geschichte zu kennen“. (S. 11) Höchst erstaunlich, aber so steht es in „Der Sommelier von Berat“, einem der ins neue Buch des Salzburger Literaten Karl-Markus Gauß aufgenommenen Reisefeuilletons. Ein anderes, sehr liebevolles, gilt der tschechischen Stadt Třebíč (dt. Trebitsch), „gestern die mährische Metropole des Surrealismus, heute eine Stadt ohne Juden mit dem schönsten jüdischen Viertel Europas“. (S. 21) Auch mit der ukrainischen Sehnsuchtsstadt Odessa werden wir bekannt gemacht: „Möglich, dass einem dort, wo die Armut sichtbar ist, weil viele Leute ärmlich gekleidet sind, bloßfüßige Kinder in den Cafés betteln und nächtens Rudel streunender Hunde die Vorstadtstraßen entlanglaufen, der Reichtum stärker auffällt, ja, dass man ihn überschätzt. Aber ich war mir sicher, kaum je in einer Stadt so viele Range Rovers gesehen zu haben wie in Odessa“. (S. 86). Eine kürzere Reise, der wir die eindrucksvolle Reportage „Das eiserne Herz des Waldviertels“ verdanken, führt in eine wenig bekannte Region, die „gewiss zu den merkwürdigsten der Republik gehört“, (S. 54) ins nordwestliche Niederösterreich mit seinem riesigen Truppenübungsplatz Allentsteig, dessen „Geschichte von Gewalt, Schmach und Schande“ wenige Wochen nach dem Einmarsch der NS-Wehrmacht begann und später vom österreichischen Bundesheer unrühmlich fortgesetzt wurde. (S. 57) Die Reportage wurde erstmals im Jahr 2006 publiziert, und wer die Arbeit von Karl-Markus Gauß in den letzten zwanzig Jahren genauer verfolgt hat, wird nicht nur diesen Text schon kennen, sondern auch einige andere – nur drei der insgesamt 23 hier versammelten Beiträge waren bisher unveröffentlicht geblieben.

Neben den Reisefeuilletons bietet Die unaufhörliche Wanderung auch jede Menge Zeitkritik, was bei diesem Autor immer auch Sprachkritik bedeutet. Gauß reflektiert über die „Schaulust“ und ihre Auswüchse im „Katastrophentourismus“ von heute, (S. 31) oder er macht sich Gedanken über die von zahlreichen Politikern immer öfter artikulierte, weil als zweckdienlich und machtfördernd erkannte „Demut“. (S. 35) Wie kam es eigentlich, dass der altbewährte „Konkurrent“ weitgehend aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden ist und höchstens noch als „Mitbewerber“ oder „Marktbegleiter“ ein kümmerliches Dasein fristet? „Es gibt eine politische Sprachverzärtelung, für die gilt: je rauer die Sitten, desto kuscheliger die Sprache […] Die gemütvolle Sprache deckt zu, was an Unbarmherzigem nicht wahrgenommen werden und uns jedenfalls nicht mehr empören soll.“ (S. 38) Wir lesen ein engagiertes Plädoyer für die Vielsprachigkeit Europas und die Gleichberechtigung aller Sprachen, die sich naturgemäß auch verändern – wovor niemand Angst zu haben braucht. „Die Sprache ist kein stehendes, sondern ein fließendes Gewässer.“ (S. 47). Fließend sind auch die Übergänge zwischen den zeit- und sprachkritischen und den politisch-historischen Themen dieses heterogenen Kompendiums, in dem kein „roter Faden“ zu entdecken ist. Der Essay „Ein Reich, geeint im Hass“ zum Beispiel beschäftigt sich mit der durch eine „gewissermaßen staatstragende Lethargie“ (S. 114) geprägten Donaumonarchie auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg – und mit ihrem Ende: „Die Donaumonarchie trägt große Schuld an den Millionen Toten, die der Krieg forderte, aber auch am eigenen Untergang, den zu verhindern oder immerhin hinauszuschieben doch einer der Hauptgründe war, ihn überhaupt zu beginnen.“ (S. 111) Auch die darauf folgenden Nationalstaaten bekamen und bekommen das gewaltige Konfliktpotenzial in Ostmittel- und Südosteuropa nicht in den Griff; dass man deshalb gern zu einem allzu billigen Brüssel-Bashing Zuflucht nimmt, wird deutlich moniert: „Die Europäische Union verdient Kritik aus vielerlei Gründen, aber immerhin, sie verdient es, das heißt, sie ist es wert, dass man sie kritisch betrachte und zu verändern versuche.“ (S. 119) Das ist ein geschmeidig formuliertes und auch plausibles, aber nicht wirklich neues oder gar originelles Statement, und davon gibt es viele in diesem Buch. Etwa, dass es „falsch, borniert und gefährlich“ sei, „den Osten zu dämonisieren und die Vielzahl seiner Länder zu einem Block zusammenzufassen“ (S. 145) – der „Wunsch vieler Osteuropäer, endlich einmal Herr im eigenen Haus zu sein“, sei „zwar historisch überholt, weil der Nationalstaat ihre Probleme nicht mehr zu lösen vermag, aber er ist vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen auch nicht ganz unverständlich“. (S. 146) Wohl wahr – aber wussten wir das nicht schon? Interessant und lesenswert ist der Text von Gauß’ Rede beim Salzburger Festspiel-Symposium im August 2019: „Die Renaissance der Grenze“. Die Migration sei keineswegs der wahre Daseinsmodus des Menschen, heißt es dort, und wahrscheinlich müsse es Grenzen geben. Aber: „1989 gab es in Europa 16 der Berliner Mauer vergleichbare Befestigungen, heute sind es mehr als siebzig.“ (S. 136) Und das müsse nun wirklich nicht sein.

Wie in fast allen Büchern des Salzburger Publizisten gibt es auch in Die unaufhörliche Wanderung etliche autobiografische Betrachtungen, darunter eine immerhin 22 Seiten umfassende „Kurze Autobiographie des Autors als junger Leser“. Man hat Karl-Markus Gauß mehrfach vorgeworfen, dass er sich gern selbst bespiegle und sein in der Tat außerordentliches Bücherwissen allzu sehr ins Rampenlicht hebe. Und genau das geschieht in diesem Aufsatz. Aber dieses Mal stört es weniger als in einigen früheren Texten, auch weil Gauß sein Grundverständnis des eigenen Schreibens und Treibens präziser darlegt als sonst: „Manchmal ist auf das anregend Gebildete oder ermüdend Bildungsschwere meiner Bücher hingewiesen worden, auf das Wissen, das in ihnen ausgebreitet wird. Aber ich habe noch kein Buch geschrieben, weil ich so viel weiß, das ich loswerden und in Büchern verstauen will, sondern nur solche, in denen ich etwas herausbekommen und erfahren wollte, was ich einzig in der Literatur herausbekommen und erfahren kann.“ (S. 180) Ja, Karl-Markus Gauß weiß viel, und er vermag es auch in Die unaufhörliche Wanderung anschaulich und leserfreundlich zu formulieren. Aber muss sein Publikum bei jeder Gelegenheit vom Autor selbst hören, dass er enorm viel weiß? Es würde seine Erfahrung und seine Belesenheit doch auch ohne solche Passagen bemerken – und dem Autor den Respekt gewiss nicht versagen.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 191–193.

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