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Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens | Rezension

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Im verzweifelten Glauben an Österreich
Ernst Lothar: Das Wunder des Überlebens. Erinnerungen. Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2020. 384 S.

Von Georg Aescht

Der Wiener Paul Zsolnay Verlag bietet mit schöner Regelmäßigkeit in bewährt österreichischer Manier „Neuheiten“, von denen man gemeint hat, sie seien mit der Habsburgermonarchie in den Äonen historischen und kulturhistorischen Vergessens untergegangen – was nun gerade ihre Frische ausmacht. Derlei Entdeckungen schmeicheln zwar vordergründig einem gewissen Nostalgiebedürfnis, sollten aber keineswegs mit verschleiertem Blick gelesen werden, denn es sind veritable Offenbarungen darunter: In jener verflossenen Welt hat man nicht nur vieles gewusst und gedacht, was auch uns gut zu Gehirn stände, es ist auch so gesagt worden, wie wir zu formulieren uns nicht mehr bemüßigt sehen – es ist einfacher, sich zu echauffieren und zu skandalisieren, vulgo zu bloggen und zu twittern.

Zu Recht spricht deshalb der durchaus heutige Daniel Kehlmann in seinem Nachwort zu Ernst Lothars Erinnerungen in einem angenehm gestrigen Tonfall von einem „ergreifenden Zeugnis der moralischen Unsicherheit, in der sich nach dem Krieg nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer befanden“. (S. 367) Es ist eine angemessene Reverenz gegenüber einem Opfer, dem Schriftsteller, Theatermann, Kulturbewegten und -beweger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Der in Brünn 1890 letztgeborene Sohn der Familie eines Rechtsanwalts steht als kränklicher Knabe zwischen zwei erwachsenen Brüdern, einem Juristen und einem bereits bekannten Schriftsteller, und geht schließlich nach dem Umzug der Familie nach Wien und einem Jurastudium den beschwerlichen, ja oft schmerzlichen Weg vom Staatsanwaltsgehilfen und fast verhinderten Dichter zum Theaterkritiker, Initiator vielfältiger kultureller Projekte und Leiter des Theaters in der Josefstadt.

Stefan Zweig hatte dem jungen Juristen, der Gedichte schrieb, dessen Klage über Amtszwang und geistiges Ungenügen verwiesen: „Warum dichten Sie nicht mit Ihren Akten das kleine Österreich größer! Das wäre eine Aufgabe!“ (S. 34) Mit auch in der späten Schilderung nachgerade rührendem Eifer nimmt sich Ernst Lothar die Mahnung zu Herzen und „dichtet mit Akten“ die Wiener Kunstmesse, die Wiener Schule des Welthandels und die Salzburger Festspiele, „weil es das aus der Welt vertriebene Österreich der Welt wieder vor Augen bringen würde“. (S. 37)

So jung und schon ein hoffnungslos sentimentaler Enthusiast? Lothars Sprachduktus scheint in der Tat eher für ein verstaubtes Rednerpult eines ebensolchen Zeitalters zu taugen als für einen aufgeklärt kritischen Leser des unseren. Aber ist einem denkenden und fühlenden Menschen zu verargen, dass er sich auch nach dem endgültigen Untergang seiner Lebenswelt mit unverändert lebhafter Partizipation über sie äußert und sich wenig um die Aus- und Ernüchterungen schert, die deutsches Verbrechen und deutsche Katastrophe der deutschen Sprache angetan haben – und die man durchaus als Verarmung empfinden muss? Einem Ernst Lothar gesteht man schon nach kaum hundert Seiten Lektüre sogar einen Tenor zu, der fast in den Diskant zu kippen droht, etwa wenn er die existenzielle Dimension der Emigration beschwört: „[…] von dort weg sollen, wo man sein will und wohin man nach menschlicher Voraussicht nicht mehr kommen wird – dieser seelische Tod ist härter als der leibliche“. (S. 92)

Tatsächlich kommt die Flucht über die Schweiz und Frankreich nach Amerika seelischem Sterben gleich, das wiederum mit quasi ekstatischen Akkorden orchestriert wird: „Ein Zuschauer bei einer Operation, sah ich mir zu, als ich mir Stück um Stück die Liebe meines Lebens aus dem Leibe riss.“ (S. 99) Darf man diesem Versehrten einen seiner eigenen despektierlichen Sätze vorhalten? „Hollywood ist tatsächlich eine Schule, nach meiner Meinung die amerikanische Hochschule dessen, was man von Amerika nicht lernen sollte.“ (S. 176) Nun, er hat die Dramatik seiner Erinnerungen nicht von Hollywood gelernt, sondern sie durchgemacht, und so mag auch die halbseitige Liste der Gäste bei Max Reinhardts Trauerfeier in der Carnegie Hall, wo Lothar die Trauerrede hielt, (S. 185) durchgehen als legitime Selbstvergewisserung eines, dem alle Gewissheiten abhanden gekommen waren, bis auf die seiner selbst.

Der Neuanfang in New York hatte das an die deutsche Sprache gefesselte Paar, die schon erfolgreiche Schauspielerin Adrienne Gessner und den des Englischen kaum mächtigen Autor und Theatermann, an den Rand des gemeinsamen Sprungs in den Lichtschacht der ärmlichen Unterkunft geführt. Aber trotz Zweifeln und Verzweiflung wagt Lothar auf Anraten Thomas Manns einen Versuch mit österreichischem Theater in New York, dem naturgemäß wenig Erfolg beschieden ist. Mit Fleiß und Willenskraft macht er sich aber als Romancier einen Namen, arbeitet als Schauspiellehrer am Bard College und als Dozent und Aufklärer in Sachen Österreich und Europa gegen die vom Krieg befeuerten fatalen Vorstellungen in Amerika an.

Ernst Lothar setzt auf Amerika: „Das riesige Land, ich rechne es ihm als Tugend an, ist eine kolossale provinzlerische Gemeinsamkeit, der die Superstädte keineswegs widersprechen.“ (S. 147) Dass Städte gemeinhin nicht zu widersprechen vermögen, nun, es sei diesem Beschwörer nachgesehen, dass er vor lauter Intensität der Empfindsamkeit manchmal die Rigœurs der Verbalität vernachlässigt. So auch, wenn er sein gespaltenes amerikanisch-österreichisches Loyalitätsbekenntnis verteidigt, das von einem amerikanischen Beamten bei der Einbürgerungsbehörde in Frage gestellt worden war („There’s no such thing as divided loyalties“ – S. 193): „Allein es bleibt eine der Unerlernbarkeiten des Daseins, zumindest für mich, bei ungelösten Grundfragen keine Ruhe zu finden. Daher versuchte ich, mich vor mir selber blind und taub zu stellen und die zwei Loyalitäten, die der Mann in der Columbus Avenue für unvereinbar erklärt hatte, zu vereinen. Vielleicht war das Leugnen ihres Nebeneinanderbestehens sein Irrtum? Wenn sie nebeneinander bestehen konnten, gab es sie! Weshalb sollte man seinem ehemaligen Vaterland nicht anhänglich, seinem adoptierten nicht erkenntlich sein? Wem tat man damit Abbruch? Warum durfte man sich nicht für beide, statt gegen eines entscheiden?“. (S. 269)

Dürftig exaltiertes Deutsch vom ersten Satz an, aber auch das hat seinen Charme, zeigt es doch, dass selbst der skrupulöse Österreicher, der Karl Kraus die Leviten liest (dessen Sprachkritik aber mit keinem Wort erwähnt), in höchster Erregung unter seinen Fähigkeiten bleibt. Die er wiederum in schönst umwundenem Österreichisch im Kommentar zu seiner Bewerbung als Direktor des Burgtheaters zum Erblühen bringt: „[…] hätte man, wäre man noch so geneigt, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln, wie ich es zeitlebens geblieben bin, die Vermutung hegen dürfen, dass man willkommen und der angebotenen Bürde gewachsen sei“. (S. 265) Was hätte man bloß ohne Konjunktiv getan!

Mittlerweile hat der nach dem Krieg als Music and Theatre Officer im Entnazifizierungsamt nach Österreich entsandte Ernst Lothar der US-„Loyalty“ entsagt und versucht in Wien und Salzburg die in größte Wirrnis geratenen oder abgerissenen Fäden österreichischer Kultur weiterzuspinnen. Das „Wunder des Überlebens“, das ihm Bruno Walter als „Pflicht“ eingeschärft hatte – es hat ihm über ein Siechtum hinweggeholfen, das er so schildert: „Heimweh ist eine unbeachtete Krankheit. Wer an ihr leidet, pflegt nicht davon zu reden. […] Es ist eine unerforschte Krankheit, weshalb sie nicht als eine gilt. Manche aber sterben daran.“ (S. 168)

Die Genesung ist auch bei Ernst Lothar nicht abgeschlossen: „Eines Tages, früher oder später, fühlt man sich überdrüssig seiner selbst und so bewusst seiner Unzulänglichkeiten, dass man, könnte man es, vor sich davonliefe.“ (S. 306) Das versucht Lothar nicht, vielmehr kann er am Ende seines Lebens und seines Buches sogar gleichmütig bilanzieren: „Verschiedenartigeres, Verwirrenderes, Umstürzenderes konnte in eine Existenz nicht gepackt sein als in die meine, die zwei Weltkriege, Heimat und Exil, Revolution, Evolution bis zum Wahnsinn der Technik, mit einem Wort das Maßlose zum Übermaß umfasst. Doch sie endet, wie sie anfing: mit der Lust am Niederschreiben dessen, was man für wahr hält.“ (S. 361)

Wer das Buch gelesen hat, kann es durchaus mit dem Autor halten, ja muss es bis hin zu der resignierenden Aussage des Nachwortes, „Hinzugefügt der Ausgabe 1965“: „Wenn der Siebzigjährige inständig hoffte, am Beginn einer allgemeinen humanen Menschheitsentwicklung zu stehen, erfuhr der Fünfundsiebzigjährige, dass diese Hoffnung auf Sand gebaut war.“ (S. 362) Das Waten im und das Bauen auf Sand hat er uns zu treuen Füßen und Händen vererbt und gezeigt, wie es mit Grandezza zu bewerkstelligen ist.

 

Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 1 (2021), Jg. 16, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 193–196.

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