Der wissenschaftliche Themenschwerpunkt dieser Ausgabe der Spiegelungen liegt auf deutschsprachigen Literaturen aus dem und zum Donau-Karpaten-Raum seit den 1980er-Jahren. Vor dem Hintergrund aktueller literatur- und kulturwissenschaftlicher Ansätze soll kritisch geprüft werden, wie sich das theoretische und das im öffentlichen Diskurs verwendete Konzept der deutschsprachigen Literaturen in und aus Südosteuropa sowie ihre innere Beschaffenheit – d. h. Themen, Motive und Sprache – in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben. Sechs ausgewählte Aufsätze, die nach dem Aufruf der Redaktion eingereicht wurden, gewähren exemplarische Einblicke in die komplexe Thematik und sind als Anregungen zu vertiefenden wissenschaftlichen Debatten zu lesen.
Der erste Beitrag spannt den chronologischen Bogen bis 1945 zurück, um die Aushandlungsprozesse im Literaturbetrieb der Deutschen in Rumänien zu untersuchen. Die Überlegungen Olivia Spiridons (Tübingen) zum Wandel der literarischen Kommunikation reflektieren jedoch über die Rahmenbedingungen des Literaturbetriebs hinaus auch seine öffentliche Wahrnehmung und Wirkung in Rumänien. Anknüpfend an die Frage der literarischen Zensur im Kommunismus, geht Katharina Kilzer (Frankfurt) in ihrem Beitrag auf die durch das Überwachungssystem des Regimes bedingte Existenzangst als literarischer Topos in ausgewählten Werken der rumänischen Autorin Ana Blandiana ein und weitet damit den Blick auf anderssprachige Literaturen des Raumes. Eine westliche Variation der literarischen »Zensur« – Kürzungen aus wirtschaftlichen Gründen – zeigt der Aufsatz am Beispiel der deutschen Übersetzung von Blandianas Die Applausmaschine auf.
Réka Sánta-Jakabházi (Klausenburg/Cluj-Napoca) knüpft an die Kanonisierungsdebatte der »rumäniendeutschen« Literatur an, indem sie die Wandlungen der Themen und Motive in der deutschsprachigen Landschaftslyrik mit Rumänienbezug seit den Achtzigerjahren untersucht.
Laura Laza (Klausenburg) widmet ihren Aufsatz dem Schlüsselwerk einer anderen Gattung und untersucht Herta Müllers Atemschaukel. Die Überlegungen zur Poetik des Romans gehen auf mögliche literarische Vergangenheitskonstruktionen in einem transnationalen Raum ein.
Mit literarischen Reflexionen zu den divergierenden historischen Prozessen der letzten Jahrhundertwende in den Ländern des Donau-Karpaten-Raumes setzen sich die Beiträge Erika Erlinghagens (Wien) und Raluca Rădulescus (Bukarest) auseinander. Erlinghagens Studie richtet den Fokus auf die »jüngste Generation« der deutschsprachigen ungarndeutschen Literatur nach 1989 und fragt nach dem Spannungsverhältnis zwischen Literatur und Identitätskonstruktionen, während sich Rădulescu am Beispiel von Nicol Ljubićs Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde in den Bereich der sogenannten Migrationsliteratur begibt. Der Aufsatz interpretiert Anpassungsprozesse und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus der Perspektive der postkolonialen Literaturwissenschaft.
Der wissenschaftliche Essay von Monica Tempian (Wellington) zeichnet das literarische Profil des 2014 verstorbenen Manfred Winkler nach. Die beschriebene Vielschichtigkeit dieses lyrischen OEuvres veranschaulichen auch die von Tempian aus dem Nachlass des Autors ausgewählten Gedichte.
Der wissenschaftliche Themenschwerpunkt wird mit literarischen Beiträgen Ursula Ackrills und Iris Wolffs ergänzt. Sie stehen beispielhaft für die neuesten Tendenzen in der betrachteten literarischen Landschaft. Weitere Texte im Kulturteil dieses Heftes, wie Wilhelm Drostes (Budapest) Beitrag über den Wiener Nischen-Verlag, der sich auf die Herausgabe ungarischer Literatur in deutscher Sprache spezialisiert hat, oder das Interview mit der Intendantin des deutschen Theaters in Sechshard (ung. Szekszárd) sind ergänzende Mosaiksteine zum wissenschaftlichen Schwerpunkt des vorliegenden Heftes, über das Sie hier noch mehr erfahren können.
Enikő Dácz
Erschienen in: Spiegelungen. Zeitschrift für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, Heft 2 (2015), Jg. 10 (64), Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, S. 9–10.